Das Dornenhaus
oder Mr Brecht im Sterbezimmer seiner Frau, das an Ellens Zimmer grenzte, ruhelos auf und ab ging. An anderen Abenden wiederum hatte Mr Brecht so viel getrunken, dass er tief und fest schlief und nichts ihn wecken konnte. Dann konnten sich Ellen und Jago treffen und zusammen sein, ohne Gefahr zu laufen, entdeckt zu werden. Die beiden waren wie eine Urgewalt, wie Wasser, Luft oder die Schwerkraft. Nichts konnte sie aufhalten. Mr Brecht konnte ihnen noch so viele Hindernisse in den Weg legen. Zwar konnte er Ellen unter Hausarrest stellen, sie in ihrem Zimmer einsperren, aber er konnte nicht verhindern, dass sie einen Weg fand, seine Verbote zu umgehen. Ebenso gut hätte er versuchen können, dem Wind oder den Gezeiten Einhalt zu gebieten.
Meine Eltern waren nicht mehr die Jüngsten; sie standen früh auf und gingen früh zu Bett. Zu der Uhrzeit, wenn Jago aus dem Haus schlich, schliefen sie schon tief und fest, die Tür ihres Schlafzimmers leicht angelehnt, damit das Flurlicht ihnen beim Gang ins Badezimmer den Weg wies. Während sich Jago für das Rendezvous mit Ellen fertig machte, schnarchte mein Vater vor sich hin, und meine Mutter lag, ihm zugewandt und zusammengerollt wie ein kleines Kind, unter ihrer Bettdecke. Die Geräusche, die mein Vater machte, übertönten bei Weitem das leise Knarren der Dielen, das Jago verursachte, wenn er auf Zehenspitzen an ihrer Tür vorbeiging. Die Zentralheizung hatte sich zu dieser Nachtzeit bereits ausgeschaltet, aber es war noch angenehm warm in unserem Haus, und in der Luft hing der Geruch nach Waschmittel und dem Gericht, das meine Mutter zum Abendessen gekocht hatte. Trixie lag unter meinem Bett oder auch darauf und träumte von den Kaninchen, denen sie tagsüber vergeblich nachjagte. Wenn Jago das Haus verließ, hob sie kurz den Kopf, bellte aber nie.
Und ich hörte ihn, hörte ihn jede Nacht.
Ich wusste, was vorging. Ich wusste, was sie taten. Jago erzählte mir hie und da etwas und Ellen ebenfalls, und auch wenn ich mich bemühte, nicht daran zu denken, ließ sich meine Phantasie nicht davon abhalten, meine Wissenslücken zu füllen. Während Jago in der Dunkelheit nach Thornfield House lief, lag ich wach im Bett und lauschte auf das Schnaufen und leise Schnarchen des Hundes. Unterwegs sah Jago Katzen, Füchse und Eulen, und sie sahen ihn. Die Lichter der Fischerboote weit draußen auf dem Meer blinkten in der Finsternis und tanzten über den Wellen. Einige der Boote erkannte Jago an ihren Lichtern und fühlte sich bei ihrem Anblick in der Nacht weniger allein. Während er zu Ellen lief, stieß er Atemwölkchen aus, die sich rasch wieder verflüchtigten. Er dachte an nichts, wusste nur, dass er tun musste, was er tat. Er musste zu ihr.
Am Tor von Thornfield House hielt er inne, um sich zu vergewissern, ob es im Erdgeschoss ruhig war. Auch das Fenster neben dem von Ellen beobachtete er sorgfältig. Seit der Nacht, in der Mrs Brecht gestorben war, waren dort die Vorhänge zugezogen, und das Zimmer wurde von gedämpftem Licht erhellt. Wenn sich Mr Brecht dort aufhielt, fiel hie und da sein Schatten auf den Vorhang. Hatte sich Jago jedoch nach einigen Minuten davon überzeugt, dass die Luft rein war, trat er in den Garten. Er musste vorsichtig sein, um den Bewegungsmelder des Verandalichts nicht auszulösen, deswegen drückte er sich dicht an der Gartenmauer entlang. So umging er auch die gekieste Auffahrt, auf der seine Schritte geknirscht hätten, und gelangte im großen Bogen zur rückwärtigen Hausecke. Dort blieb er stehen und schaute zu Ellens Fenster hinauf. Ellen erwartete ihn bereits und hatte den unteren Teil des Fensters hochgeschoben. Ihr Vater glaubte, dass wenn er ihre Tür von außen verschloss, seine Tochter in ihrem Zimmer sicher verwahrt wäre. Er wusste nicht, dass Ellen und Jago ihn insgeheim verhöhnten und einen Weg gefunden hatten, um seine sorgfältigen Vorkehrungen zu umgehen.
Bis vor Kurzem war der Garten von Thornfield House nachts von den süßlichen Düften der Blumen und Mauergewächse, die Adam Tremlett in den Beeten entlang der Auffahrt gepflanzt hatte, erfüllt gewesen, gemischt mit den Aromen von Seidelbast, Heckenkirschen und Rosen. Aber jetzt waren die Blumen verschwunden. Doch auch wenn die Bienen und Schmetterlinge, die früher tagsüber den Garten aufgesucht hatten, ihm seither fernblieben, fuhren die Motten des Nachts unermüdlich mit ihrer nützlichen, lautlosen Bestäubungsarbeit fort: Sie bestäubten das Gras und
Weitere Kostenlose Bücher