Das Dornenhaus
irgendwann eingeschlafen ist. Er hat getrunken, und ich wusste, er würde nicht so bald wieder aufwachen. Zuerst wollte ich zu dir, aber unterwegs ist mir Jago mit dem Fahrrad entgegengekommen.«
Ellen zögerte, dann atmete sie tief ein und aus und sagte: »Wir haben uns auf der Straße unterhalten, aber ich hatte Angst, dass uns jemand sieht, und wir sind hierhergegangen, um allein zu sein.«
»Und … ihr habt einfach nur geredet?«
»Nein, Hannah, wir haben nicht nur geredet. Kannst du dir nicht denken, was wir getan haben? Kannst du dir nicht vorstellen, woher die Erde und das Gras kommen?«
Mein Herz hämmerte in der Brust. Ich befühlte die Socke in meiner Tasche, rieb das feine Wollgewebe zwischen den Fingern.
Ellen lächelte leise.
»Ich wollte, dass er mich küsst«, sagte sie. »Und habe ihn gebeten, es zu tun. Er hat meine Augenlider geküsst, aber ich sagte, nein, küss mich auf den Mund, küss mich richtig, küss mich, als würden wir gleich sterben, als wäre es unser letzter Kuss. Und dann …«
Ellen blickte zum Himmel. Die Jacke glitt von ihren Schultern.
Ich hielt den Atem an. Ich fürchtete mich vor dem, was sie als Nächstes sagen würde, obwohl ich es bereits wusste.
»Es ist nicht Jagos Schuld, Hannah, sondern meine. Ich habe ihn dazu gebracht. Ich habe das Kleid ausgezogen und war kein bisschen verlegen. Die Sonne fühlte sich so warm auf meiner Haut an, und er hat mich voller Bewunderung angesehen. Ich war so glücklich, Hannah, ich wollte es unbedingt. Ich habe ihn verführt.«
Sie lachte.
»O Gott«, sagte ich im Flüsterton, denn ich wusste, was das bedeutete. Sie hatten eine rote Linie überschritten. Nun gab es für Ellen und Jago kein Zurück mehr. Ich hatte das Gefühl, als stürzte ich kopfüber in ein tiefes Loch, das mich für immer verschluckte. Nun, da Ellen und Jago miteinander geschlafen hatten, würde es endgültig keinen Platz mehr für mich geben. Es war, als ob ich nicht mehr existierte.
»Siehst du das Blut dort im Gras«, sagte Ellen. »Das ist ein geweihter Fleck. Der Platz, wo Ellen Brecht ihre Jungfräulichkeit verloren hat, wo sie sich zum ersten Mal Jago Cardell hingegeben hat.«
Sie schien sich der Bedeutung ihrer Worte nicht bewusst zu sein. Sie hatte ja keine Ahnung. Es war nur ein weiterer Akt in dem Stück, das sie spielte, dem fortwährenden Drama ihres Lebens. Doch als ich sie ansah, bemerkte ich, dass sie stumm weinte; ihre Wangen waren nass von Tränen. Mit einem Mal hatte ich Mitleid mit ihr. Ich streckte die Hand aus, und sie lehnte sich an mich, so wie früher, fasste mich unter und schmiegte ihre feuchte Wange an meine Schulter.
»Er hat gesagt, er liebt mich«, sagte Ellen leise. »Dass er mich schon immer geliebt hat. Und dass er einen Weg finden wird, damit wir zusammen sein können.«
Eine Libelle ließ sich auf einem Blatt nieder und spreizte die Flügel im Sonnenlicht. Ich betrachtete das filigrane, spitzenartige Gewebe der Flügel. Und dachte, wie einfach es wäre, der Libelle Leid anzutun. Eine Bewegung mit der Hand, und sie wäre tot.
»Du musst vorsichtig sein, Ellen«, sagte ich. »Überleg dir genau, was du tust. Du spielst ein gefährliches Spiel.«
Ellen lächelte weiterhin in sich hinein. Sie hörte mir gar nicht zu. Sie schien davon überzeugt, dass ihr jetzt nichts mehr passieren konnte. Sie hatte ja keine Ahnung.
EINUNDDREISSIG
D ie ungewöhnlich lange Serie warmer, linder Sommertage ging in der folgenden Nacht mit einem Paukenschlag zu Ende, als ein gewaltiger Gewittersturm auf einer Länge von fünfzig Kilometern an der Südwestküste Englands wütete. In Montpelier fiel der Strom aus. Die dunklen Straßen waren wie leer gefegt. Der Regen prasselte auf den Asphalt, setzte reihenweise Autoalarmanlagen in Gang und verstopfte die Gullys, sodass das Wasser durch die Kanaldeckel zurückströmte. Ich lag auf meinem Bett. Lily kroch zu mir unter die Decke und rollte sich neben mir ein. Immer wieder durchzuckte ein Blitz das Zimmer, ließ die Wände mit der Kommode und dem Kleiderschrank, an dem mein Bademantel hing, weiß aufscheinen. Ich musste daran denken, wie sehr sich die arme Trixie immer vor Blitz und Donner gefürchtet hatte. Sobald ein Gewitter im Anzug war, hatte sie Zuflucht unter meinem Bett gesucht, und nichts konnte sie wieder hervorlocken, ehe das Blitzen und Donnergrollen nicht aufgehört hatten. Ich hatte dann immer das Radio aufgedreht, um die Gewittergeräusche zu dämpfen, aber auch das hatte nicht
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