Das Dornenhaus
geholfen.
Das blaue Glasstück lag in meiner Hand; ich drehte es um. Lily lag schnurrend auf meiner Brust. Sie mochte es, meinen Herzschlag zu spüren. Und ich mochte ihre Wärme.
Wieder kam mir Trixie in den Sinn, die sich vor dem Gewitter unter dem Bett versteckt hatte. Als Jago noch ein Junge war, war er unters Bett gekrochen, um Trixie zu trösten. Ich sah das Bild vor mir, wie seine langen Beine hervorragten und quer über dem Bettvorleger lagen, ein Fuß von einer schmutzigen grauen Socke mit einem Loch bedeckt, der andere nackt, nur ein Pflaster prangte darauf. Ich hatte den Kopf auf der anderen Seite des Bettes hinabhängen lassen und über diesen Jungen und den hässlichen weißen Hund gelacht, die sich unter meiner Matratze aneinanderkuschelten. Plötzlich vermisste ich die beiden so sehr, dass ich das Gefühl hatte, ich könnte keine weitere Nacht ohne sie überstehen.
Ich öffnete die Augen und starrte zur Decke hinauf. Die Schweinwerfer der vorbeifahrenden Autos erhellten das Fenster und ließen die Regentropfen auf dem Glas sich widerspiegeln. Weil der Regen mit voller Wucht auf die Scheibe prasselte, krochen die Tropfen nur langsam hinab.
Mit einem Mal fragte ich mich, ob ich vielleicht doch auf irgendeine Weise für die Sache mit dem Strandglas verantwortlich war. Ich erinnerte mich an einen Artikel, den ich gelesen hatte, wo es um eine Art wissenschaftlichen Nachweis für das Poltergeist-Phänomen ging. Handelte es sich dabei nicht um die physikalische Manifestation einer psychischen Störung? Gab es nicht dokumentierte Fälle von Objekten, die im wahrsten Sinn des Wortes wie von Geisterhand bewegt worden waren, ohne dass eine physische Ursache zu erkennen war? Nur dass es sich dabei um kleinere Phänomene mit geringer Bewegungsenergie handelte: eine Glühbirne, die an ihrem Draht ins Schwingen geriet, oder eine Tasse, die von einem Regalbrett fiel. Also schien es doch äußerst unwahrscheinlich, dass die Glasstücke den ganzen Weg vom Strand bis zu dem Grabstein allein kraft meines Geistes, gleich wie gestört dieser auch sein mochte, transportiert worden waren.
Du bist müde, sagte ich mir. Morgen wirst du wieder klarer sehen. Im selben Moment durchzuckte ein Blitz das Zimmer, und ich erblickte einen Schatten im Spiegel, nein, keinen Schatten, sondern ein Gesicht, Ellens Gesicht, das mich mit einem verzweifelten Ausdruck in den Augen und eingerahmt von ihren triefend nassen Haarsträhnen durch das Glas anstarrte. Sie streckte die nach oben gedrehte Hand in meine Richtung aus, eine Geste, die mir sagte: Hilf mir! Einen Moment lang glaubte ich, sie wäre im Spiegel gefangen, mir war, als hörte ich sie schreien, und sie schien mit den Fingern an der anderen Seite des Glases zu kratzen. Dann erlosch das Licht, und übrig blieb das glühende Negativ von Ellens Gesicht, das in die Rückseite meiner Augen gebrannt war und mich weiterhin anstarrte.
ZWEIUNDDREISSIG
I n der Woche darauf erschien Ellen nicht in der Schule. Als ich am dritten Schultag nach Thornfield House hinaufradelte, um nach ihr zu sehen, öffnete Mrs Todd die Tür und sagte, dass Ellen künftig zu Hause lernen würde.
»Aber was ist mit ihrem Abitur?«
»Sie kann sich zu Hause auf die Prüfungen vorbereiten.«
»Dürfte ich bitte zu ihr?«
Mrs Todd schüttelte den Kopf. »Heute nicht, Hannah.«
Ich spürte Panik in mir aufsteigen. Als ich der Frau in die Augen blickte, meinte ich, Mitleid darin zu erkennen.
»Bitte, Mrs Todd. Nur für fünf Minuten.«
»Tut mir leid. Heute wirklich nicht. Komm morgen wieder, vielleicht geht es dann.«
Mrs Todd schloss die Tür buchstäblich vor meiner Nase. Einen Moment lang war ich versucht, mit den Fäusten an die Tür zu trommeln oder mit den Füßen dagegenzutreten, damit Mrs Todd erneut öffnete, ich wusste jedoch, dass ich damit alles nur schlimmer machen würde.
Als ich die Auffahrt hinunterging, blieb ich stehen und blickte zu Ellens Fenster hinauf. Sie stand dort und schaute zu mir herab. Ich hob die Hand und winkte. Die Sonne blendete mich. Ellen schob den unteren Teil des Fensters hinauf. Dann lehnte sie sich hinaus, legte den Zeigefinger an die Lippen und warf ein zu einem Flugzeug gefaltetes Blatt in meine Richtung. Ich rannte ihm nach, fing es auf und wedelte damit in der Luft, um Ellen zu zeigen, dass es sicher bei mir gelandet war, dann winkte ich zum Abschied und verließ rückwärts die Auffahrt.
Es war merkwürdig, wie sich alles verändert hatte. Noch
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