Das Dornenhaus
Um meine Eltern zu besuchen, aber auch … Ich weiß nicht genau, warum, aber plötzlich hat es mich zu dem Strand gezogen, an dem ich früher oft mit Ellen war. Ich dachte an sie und habe plötzlich etwas … jemanden gesehen, der mich beobachtete.«
Ich hörte, wie Julia langsam Luft holte, ein Geräusch, das sich wie ein Seufzen anhörte.
»Ich weiß nicht, wer es war«, fuhr ich schnell fort. »Die Sonne hat mich geblendet, und ich konnte die Person nicht klar erkennen, aber es war eine Frau, und sie stand hoch über mir an der Felskante, an einer Stelle, die nur Ellen kannte …«
»Es könnte ebenso gut jemand anders gewesen sein, Hannah.«
»Ich weiß.«
Oder aber niemand, dachte ich, sagte es aber nicht.
Ich setzte mich in den weißen Sessel. »Und da war noch etwas, etwas Merkwürdiges. Ich bin zu Ellens Grab gegangen – zum ersten Mal im Übrigen –, ich weiß, Sie haben mir damals dazu geraten, aber ich hatte es bisher nicht getan. Wie auch immer, ich bin also auf den Friedhof gegangen und habe dort etwas gefunden, etwas aus unserer Kindheit.«
»Was haben Sie gefunden?«
Mit einem Mal war mir ein bisschen schwindelig. »Glasstücke. Wir haben es Strandglas genannt. Glas, das das Meer an den Strand gespült hat. Früher habe ich es gesammelt. Ich habe es in einem Versteck in einer Felsspalte zurückgelassen, das außer mir nur Ellen kannte. Jemand hat es von dort geholt und auf Ellens Grabstein gelegt. Finden Sie das nicht auch merkwürdig?«
»Woher wissen Sie, dass es dieselben Glasstücke sind? Sie haben sie doch seit vielen Jahren nicht mehr gesehen.«
»Weil …« Ich unterbrach mich. Ich konnte ihr jetzt nicht erklären, was es mit dem blauen Glasstück auf sich hatte, denn dazu hätte ich weiter ausholen müssen. »Ich weiß nicht genau, aber ich bin mir ganz sicher, dass es die Glasstücke sind, die ich gesammelt habe.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte einen Moment lang Schweigen. Mit einem Mal fühlte ich mich sehr verletzlich.
Dann sagte Julia: »Ich würde Sie gern sehen, Hannah, einfach nur auf einen Kaffee, damit ich auf dem neuesten Stand bin. Es wäre, glaube ich, gut, wenn wir uns direkt unterhielten. Was meinen Sie?«
Ich war erleichtert. Julia würde beurteilen können, ob mit mir alles in Ordnung war oder ein neuer Zusammenbruch drohte. Sie war schließlich darauf spezialisiert. Vielleicht konnte sie mir auch ein Medikament verschreiben, etwas, was Ellen dazu brachte, mich endlich in Ruhe zu lassen. Etwas, was mich endlich wieder schlafen ließ.
»Es wäre wunderbar, wenn wir uns treffen könnten, Julia«, sagte ich. »Ich glaube, das würde mir wirklich helfen.«
»Gut.«
Wir verabredeten uns für den nächsten Tag in Bristol.
VIERUNDDREISSIG
I m November wurde ich achtzehn. Mum und Dad fuhren mit Jago und mir nach Exeter. In einem quirligen italienischen Restaurant aßen wir Pizza aus einem richtigen Holzofen, und ein Kellner mit einer grotesk großen Pfeffermühle bediente uns. Der Kellner küsste theatralisch die Fingerspitzen, um deutlich zu machen, wie köstlich die von ihm empfohlenen Gerichte waren. Dad meinte, anhand der kleinen Schüsseln mit Parmesan, die auf jedem Tisch standen, könne man erkennen, dass es sich um ein echtes italienisches Restaurant handele. Ich genoss es sehr, obwohl Jago, der sich alle Mühe gab, sich nichts anmerken zu lassen, nervös war und unruhig auf seinem Stuhl herumrutschte. Auf Dads Geheiß trug er Hemd und Krawatte. Beides passte ihm nicht. Meine Eltern schenkten mir hundert Pfund zum Geburtstag, von Jago bekam ich ein Bettelarmband. Ich legte es um mein Handgelenk, und er versprach, mir jedes Jahr einen neuen kleinen Anhänger dafür zu kaufen.
Das schönste Geschenk erhielt ich jedoch von Ellen und Mr Brecht. Ellen überreichte es mir bei meinem nächsten Besuch in Thornfield House, während Mr Brecht eine Flasche Champagner entkorkte. Mrs Todd stand erwartungsvoll daneben. Das Geschenk war wunderschön verpackt. Es war eine Enzyklopädie der Naturgeschichte mit herrlichen Farbillustrationen. Auf der ersten Seite stand in Ellens Handschrift: »Meiner besten Freundin, auf immer und ewig«, und ihr Vater hatte darunter geschrieben: »In Liebe.« Diese beiden Worte zeichnete ich im Laufe der Zeit mit der Fingerspitze so oft nach, dass sie allmählich verblassten.
Das Papier war fest und fühlte sich seiden an. Die Seiten rochen herrlich. Immer wieder blätterte ich in dieser Enzyklopädie. Dabei stellte ich
Weitere Kostenlose Bücher