Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Turney
Vom Netzwerk:
ihrem Liebhaber? Ich stellte mir vor, wie Charlotte und der Dekan ihrer Fakultät in einem kleinen Café in einer Nebenstraße saßen, unter dem Tisch Händchen hielten und über John sprachen, darüber, wie man es ihm am besten sagte und wie er wohl reagieren würde. Charlotte hatte eine dramatische Ader, sie liebte solche Situationen. Wahrscheinlich übertrieb sie in ihren Spekulationen über Johns mögliche Reaktion, vielleicht mutmaßte sie sogar, dass er wütend und aggressiv sein würde, obwohl das gar nicht zu John passte.
    John gähnte. Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und streckte die Arme über dem Kopf aus.
    »Ich hatte einfach keine Lust mehr, allein zu Hause herumzusitzen, und habe beschlossen, dass ich ebenso gut etwas Kreatives tun könnte«, sagte er. »Also bin ich gestern Abend ins Büro gekommen, allerdings in der Absicht, nur ein, zwei Stunden zu bleiben, aber dann habe ich völlig die Zeit vergessen und muss irgendwann eingenickt sein, denn auf einmal dämmerte es. Und meine Wange war ganz knittrig, weil ich mit dem Kopf auf dem Schreibtisch geschlafen habe.«
    Ich lächelte. »Armer Kerl. Möchtest du vielleicht einen Kaffee?«
    »Den brauche ich dringend.«
    »Mit Milch und zwei Stück Zucker?«
    »Du bist ein Engel.«
    Ich verließ sein Büro und ging zur Küchenzeile. Während ich wartete, bis das Wasser erneut kochte, sah ich durch die offene Tür, wie John am Fenster stand und sich mit den Fingern das Haar kämmte.

SECHSUNDDREISSIG

    W ieder wurde es Weihnachten. Für Ellen, Jago und mich sollte es das letzte Weihnachtsfest sein, das wir zu Hause verbrachten, nur dass wir es damals noch nicht wussten. Ich erinnere mich, dass ich mich in jenem Dezember unruhig und eingeengt fühlte, wie eine Insektenlarve, die kurz davor ist, ihren Kokon abzustreifen und ihr Leben als fertiges Insekt anzutreten. Alles, was meine Eltern taten, irritierte mich, und Jago machte sich, anstatt sich mit mir – seiner Komplizin, wie er selbst gesagt hatte – zusammenzutun, noch rarer als zuvor.
    Ich hatte mich verändert, aber die Rituale bei uns zu Hause waren die gleichen. Wie jedes Jahr holte Dad den uralten Weihnachtsbaum vom Dachboden, und ich half ihm, die Kunsttannenzweige mit Christbaumkugeln von Woolworth und einer Lichterkette zu schmücken, die gleichzeitig ein Potpourri aus Weihnachtsliedern klimperte. Mum machte Hackfleischpasteten für alleinstehende ältere Dorfbewohner, von denen einige nur wenige Schulklassen über ihr gewesen waren. Mindestens zwei Mal am Tag stieß Trixie aus Versehen gegen den Weihnachtsbaum, der einen großen Teil des Wohnzimmers einnahm. Mum, Dad, Jago und ich strichen Sendungen im Radio- und Fernsehprogramm von TV -Zeitschriften an, die wir über die Feiertage unbedingt anschauen wollten, obwohl Jago gewiss nicht die Absicht hatte, die gesamte Weihnachtszeit in unserem Wohnzimmer zu verbringen.
    Mrs   Brechts Todestag, der sich kurz vor Weihnachten jährte, verbrachte ich mit Ellen und ihrem Vater. Mr   Brecht schien sich wieder gefangen zu haben. Er hatte schon vor geraumer Zeit angefangen, für diesen Tag einen Ausflug im Gedenken an seine Frau zu planen, und das gab ihm offensichtlich Auftrieb. Es sollte etwas sein, was nicht nur uns Spaß machte, sondern auch seiner Frau gefallen hätte.
    Bei meinem Eintreffen in Thornfield House sah Mr   Brecht so attraktiv aus wie in seinen besten Zeiten. Er hatte den Bart gestutzt und sich das Haar schneiden lassen; obgleich noch schulterlang, war es frisch gewaschen und hatte einen seidigen Glanz. Über einer schwarzen Hose und einem schwarzen Hemd trug er einen Mantel. Er begrüßte mich mit Wangenküsschen links und rechts, wie eine erwachsene Frau, sagte, ich sähe sehr hübsch aus, und hielt mir dann die Beifahrertür auf. Ellen hatte bereits im Fond des Wagens Platz genommen. Mir den vorderen Sitz zu überlassen war ihre Art, sich bei mir zu bedanken. Ich drehte mich lächelnd zu ihr um, und sie ergriff meine Hand. Ihre fühlte sich kalt und zart an. Ich wusste, dass sie versöhnlich gestimmt war.
    Während Mr   Brecht mit uns nach St Ives fuhr, spielte die ganze Zeit Musik von Joan Armatrading und Paul Simon im Wagen, und er ermunterte uns, mitzusingen. Die Heizung blies warme Luft an meine Beine. Ich legte die Stirn an die Scheibe und stellte mir vor, ich wäre mit Mr   Brecht verheiratet. Völlig abwegig war das schließlich nicht, sagte ich mir, allerdings wäre frühestens in ein, zwei Jahren daran zu

Weitere Kostenlose Bücher