Das Dornenhaus
bei ihm die Sicherung durchbrennt«, oder »Wenn Ellen nicht ständig lügen würde, wäre alles nicht so schlimm«.
Also sagte ich nur: »Es ist nicht so, dass Ellens Vater sie nicht liebt, Jago. Im Gegenteil, er liebt sie vielleicht zu sehr.«
FÜNFUNDDREISSIG
W ährend ich im Regen die Stokes Croft Road und anschließend die Jamaica Road entlangging, dachte ich an mein Telefonat mit Julia. Ich rief mir eine der mentalen Techniken in Erinnerung, die sie mir beigebracht hatte, nämlich meinen Geist zu beschäftigen, indem ich intensiv auf meine Umgebung achtete. In Gedanken beschrieb ich meine Eindrücke von der Stadt und lenkte mich ab, sodass kein Raum für Ellen blieb. Ich näherte mich einem Erschöpfungszustand, bei dem die Grenze zwischen bewusstem Denken und Träumen fließend ist. Ein nicht ganz ungefährlicher Zustand, wie ich aus Erfahrung wusste. Ich musste mich unbedingt an der Wirklichkeit festhalten. Ich musste mir darüber im Klaren sein, wo das wirkliche Leben aufhörte und die Albträume begannen. Doch selbst jetzt, im Gehen, fiel mir das schwer, und die Wirklichkeit drohte mir zu entgleiten.
Obwohl ich früh dran war, war ich nicht die Erste, die im Museum ankam. In den Büros brannte Licht, und jemand hatte sogar schon den Wasserkessel eingeschaltet. Ich blickte mich rasch um, um zu sehen, wer der Frühaufsteher war. Durch die Milchglastür von Johns Büro drang der blaue Schein des Computerbildschirms. Die Tür war nur angelehnt. Ich schob sie auf. John hatte mich noch nicht bemerkt, er war zu sehr in seine Arbeit vertieft. Die Jalousie war heruntergelassen, er saß über die Tastatur gebeugt, und das Licht des Bildschirms spiegelte sich in seinen Brillengläsern.
»John?«, sagte ich leise.
Er zuckte zusammen und drehte sich um. Er sah furchtbar aus. Sein Haar stand vom Kopf ab, und er war unrasiert. Bei seinem Anblick fühlte ich mich auf einmal stärker, als würde sein desolater Zustand meine eigene Zerbrechlichkeit mindern. Ich fühlte mich nicht mehr ganz so verwundbar.
»Alles okay mit dir?«, fragte ich und schob einen Kaffeebecher mit der Aufschrift »Ich stehe vor den Trümmern meiner Karriere« auf dem Schreibtisch zur Seite, um Platz zu schaffen, dass ich mich an die Kante lehnen konnte.
»Ja, ja«, erwiderte John. »Mir geht es gut. Ich bin früh hergekommen, um in Ruhe meinen Artikel zu Ende zu schreiben.«
»Du siehst aus, als hättest du dir die ganze Nacht hier um die Ohren geschlagen.«
John zuckte kaum merklich zusammen, und ich hatte das schreckliche Gefühl, unbeabsichtigt den Nagel auf den Kopf getroffen zu haben. Mir fiel wieder ein, was seine Frau drei Tage zuvor zu ihrer Freundin gesagt hatte. Dass sie vorhabe, ihm zu eröffnen, sie wolle sich von ihm trennen. Ich fragte mich, ob sie ihre Ankündigung wahr gemacht hatte, ob sie den Mut aufgebracht hatte, ehrlich zu ihm zu sein. Und ob er sich daraufhin in sein Büro geflüchtet hatte. Hatte er mich deswegen zu erreichen versucht? Hatte er sich an meiner Schulter ausweinen wollen oder eine Übernachtungsmöglichkeit gesucht? Hatte ich ihn ausgerechnet in dem Moment im Stich gelassen, als er einen Freund an seiner Seite brauchte?
Ich war mir nicht sicher, konnte nur Vermutungen anstellen. Noch immer hing das Foto von Charlotte und den beiden Mädchen an der Korkpinnwand. Noch immer blickte Charlotte lächelnd zu ihrem Mann hinab, mit dem gleichen unbeschwerten Ausdruck in den Augen wie immer.
»Ist wirklich alles okay, John?«, fragte ich. »Du siehst müde aus.«
»Es ist wegen Charlotte …«
»O John, das habe ich mir gedacht. Ich habe geahnt, dass es passieren würde. Warum bin ich am Wochenende nicht dageblieben, dann hätte ich dir beistehen können! Tut mir leid, John.«
Er runzelte die Stirn. »Warum denn? Warum hättest du hier bleiben sollen? Was tut dir leid?«
Ich schluckte. »Ich dachte … Hat sie nicht … Hast du nicht … Ich weiß nicht.«
John nahm seine Brille ab, hauchte auf die Gläser und putzte sie mit dem Zipfel seines Hemds.
»Sie bleibt noch ein paar Tage bei ihrer Mutter.«
»Ach so.«
Ich zwang mich zu einem Lächeln, als wäre dies eine gute Nachricht, während ich versuchte, die Information zu verarbeiten. Das hieß also, Charlotte schob ihre Entscheidung hinaus. Wollte sie die zusätzliche Zeit nutzen, um gewisse Vorkehrungen zu treffen? Um zum Beispiel eine einstweilige Unterkunft zu finden und ein neues Bankkonto einzurichten? Oder vergnügte sie sich ganz einfach mit
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