Das Dornenhaus
mir vor, wie es wäre, in einem Eisgang zu sein oder in einem Dschungel mit Bären, Affen und Schlangen oder bei Sonnenuntergang in einer Wüste. Das Buch weckte meine Reiselust.
Die Tatsache, dass Ellen und ihr Vater es gemeinsam ausgewählt und mir überreicht hatten, bestärkte mich in meiner Vermutung, dass die Beziehung zwischen ihnen nicht völlig zerrüttet sein konnte. Zum wohl hundertsten Mal fragte ich mich, ob die Situation in Thornfield House tatsächlich so schlecht war, wie Ellen behauptete. Nachdem ich mein Geschenk ausgepackt hatte, stellten sie sich nebeneinander, Mr Brecht legte die Hand auf Ellens Schulter, und sie lehnte sich leicht an ihn, und lächelnd erhoben sie die Gläser, um mit mir anzustoßen. Ich trat zu ihnen, um mich zu bedanken, und beide küssten mich auf die Wange. Wieder einmal fiel mir auf, wie ähnlich sie sich doch in vielerlei Hinsicht waren. In stillem Einvernehmen hatten sie mir zu Ehren einen Waffenstillstand geschlossen. Wenn Ellen sich und allen anderen das Leben nur nicht immer so schwer machen würde, dachte ich bei mir. Dann wäre womöglich alles wieder gut.
Nur in einer Hinsicht nicht. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Mr Brecht Ellen jemals vergeben würde, was sie mit Jago tat. Jedenfalls nicht in absehbarer Zeit. Nicht, nachdem ihr Verrat schon so lange andauerte, unter seinem Dach, quasi vor seinen Augen. Nicht nachdem Jago und sie ihn derart zum Narren gehalten hatten.
Mr Brecht tat mir von Herzen leid.
Der Winter kam und zeigte sich von seiner kalten, grauen, garstigen Seite. Die Zeit schien nicht vergehen zu wollen, als hätte sie einen Gang heruntergeschaltet. Es gab keinen Tag, an dem mir nicht langweilig war. Ich unternahm ausgiebige Spaziergänge oder lag mit geschlossenen Augen auf dem Bett und sann über die Eintönigkeit meines Lebens nach. Ich sehnte mich nach mehr Aufregung. Ohne Ellen fühlte ich mich in der Schule einsam. Der Unterricht ödete mich oft an. Die Jungen meines Alters interessierten mich nicht. In meinen Augen waren sie wie Rindviecher – sie waren genauso träge und schwerfällig und rochen streng –, ganz anders als Mr Brecht. Gewiss hatten sie nicht die leiseste Ahnung, was es hieß, einer Frau den Hof zu machen, sie zu verführen und zu lieben. Während die anderen Mädchen offenbar kein anderes Thema als diese Jungen kannten, konnte ich den Gedanken, dass einer von ihnen mir nahekäme, nicht ertragen.
Zu Hause fühlte ich mich eingeengter denn je. Meine Eltern, die inzwischen im Rentenalter waren, wurden immer häuslicher. Ihr Alltag war eingefahren, sie sahen sich die immergleichen Fernsehsendungen an, hatten ihre festen Mahlzeiten und gingen stets zur gleichen Zeit ins Bett. Und Jago, der Einzige, der ein bisschen Spaß in mein Leben hätte bringen können, hatte keine Zeit für mich.
Als ich eines Nachmittags mit Trixie an der Flussmündung spazieren ging, sah ich ihn zusammengekauert auf einem Felsen sitzen. Er beobachtete, wie die Flut ins Wattenmeer strömte, wo die Wattvögel mit ihren langen, dünnen Beinen herumstaksten und mit ihren gekrümmten Schnäbeln nach Nahrung pickten. Wortlos und ohne ihn zu berühren, nahm ich neben ihm Platz. Schützend legte ich den Schoß meines Mantels über Trixie. Eine Weile saßen wir drei nebeneinander auf dem Felsen und starrten auf die blaugraue See und in den Himmel mit den kreischenden Meeresvögeln.
Jago hob einen Kieselstein hoch und warf ihn aufs Wasser. Er sprang zwei Mal. Dad sagte immer, das bedeute Unglück.
»Wirf noch einen«, sagte ich. »Er muss drei Mal hüpfen.«
Jago versuchte es erneut. Der Kieselstein sprang auf dem Wasser, als hätte er einen Stromstoß erhalten, um dann jedoch sofort unterzutauchen.
»Noch mal«, sagte ich, aber Jago schüttelte den Kopf.
»Woran denkst du?«, fragte ich.
»Ich muss Ellen von hier wegbringen«, sagte er. »Weit weg von ihrem Vater, an einen Ort, wo er sie nicht finden kann.«
»Warum denn?«
Er sah mich finster an. »Warum wohl? Damit wir endlich ohne diese ganze Heimlichtuerei zusammen sein können.«
»Wohin wollt ihr denn?«
»Keine Ahnung. Nach Amerika. Oder irgendwo anders hin. Die Hauptsache weit weg.«
Jago stützte die Stirn in die Hände. Ich ließ den Kopf gegen seine Schulter sinken und zog den Hund noch enger an mich.
»Wartet doch noch ein bisschen«, sagte ich, »bis Ellen volljährig ist, dann kann ihr Vater ihr nicht mehr verbieten, sich mit dir zu treffen. Wahrscheinlich könnte
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