Das Dornenhaus
Geschichten aus seiner Zeit mit Anne. Im Geiste malte ich mir die jeweilige Szene aus, wobei ich Annes Platz einnahm.
An Silvester war die Sperrstunde aufgehoben, und die Pubs durften bis Mitternacht geöffnet bleiben. In Polrack sollte es ein großes Feuerwerk geben. Meine Eltern reagierten zusehends empfindlicher auf Lärm und Menschenmassen, außerdem meinten sie, sie müssten wegen Trixie zu Hause bleiben. Also bat Ellen ihren Vater, mit uns nach Polrack zu fahren.
Trotz der Kälte waren die Straßen und Gassen des Hafenstädtchens voller Menschen, die sich mit Essen und Getränken von den Straßenbuden eindeckten. Mr Brecht schlug vor, dass wir uns um Mitternacht an der Hafenmauer wiedertreffen sollten, dann verschwand er in einem Pub. Ellen und ich kauften Hotdogs und Pappbecher mit heißem Cidre. Unentwegt blickte sie sich um, hielt Ausschau nach jemandem, während wir zum Hafen hinunterschlenderten. Wir setzten uns auf die Mauer und ließen die Beine über dem schwarzen Wasser baumeln, während wir auf das Feuerwerk warteten. Es dauerte nicht lange und Jago tauchte auf; er nahm neben Ellen Platz. Ich begriff, dass es kein Zufall war, sondern dass sie es geplant hatten. Sie hatten unbedingt Silvester zusammen verbringen wollen und einen Plan ausgeheckt. Und ich war wieder einmal ihr Alibi. Eine Weile sprachen sie leise miteinander, dann streckte Jago die Hand aus und zupfte mich am Ärmel.
»Sei doch so nett, Han, und behalte den Eingang des Baudelaire im Auge«, sagte er. »Sobald der Psycho aus der Kneipe kommt, rennst du zu uns und warnst uns.«
»Nein«, sagte ich. »Ich bleibe hier. Ich will das Feuerwerk sehen!«
»Vor dem Pub kannst du es doch auch sehen.«
»Ach ja? Ich soll also allein dort herumstehen? Schließlich ist für mich heute auch Silvester, oder nicht?«
»Nun sei doch nicht so egoistisch, Hannah«, warf Ellen ein.
In dem Moment hätte ich sie am liebsten hätte von der Mauer geschubst. Sie ins eiskalte Wasser gestoßen und ihr Kreischen genossen.
Stattdessen stand ich auf und schob mich langsam, die Hände in den Taschen vergraben und mit nach vorn gebeugten Schultern, durch die Menge in Richtung des Pubs. Davor standen Menschen in dichten Gruppen zusammen, um sich warm zu halten. Es herrschte eine fröhliche Stimmung, es wurde viel gelacht, Musik wurde gespielt, Zigarettenrauch und der Geruch nach Bier und gebratenen Zwiebeln und, wie immer in Polrack, nach Fisch hing in der Luft. Die ausgelassene Atmosphäre sorgte dafür, dass ich mich umso einsamer fühlte. Die heiteren Stimmen von Menschen, die sich prächtig amüsierten, hallten in meinem Kopf wider. Ich sah mich um und stellte fest, dass ich als Einzige allein war. Alle anderen standen grüppchen- oder paarweise da, hielten sich an den Händen oder hatten den Arm um jemanden gelegt.
Nur ich war allein.
Ungefähr eine Stunde lang drückte ich mich vor dem Pub herum und gab mein restliches Geld für heißen Cidre aus, während ich mich zusehends bemitleidenswerter und einsamer fühlte. Dann endlich war ein Knall wie ein Pistolenschuss zu hören. Alle Köpfe drehten sich zu der angestrahlten Kirchturmuhr. Der Minutenzeiger war nur noch ein winziges Stück von der Zwölf entfernt, und eine Lautsprecherstimme zählte rückwärts: Zehn, neun … eins. Um Mitternacht läutete die Kirchturmuhr, und alle fielen sich in die Arme. Ich hielt mich in der Nähe des Baudelaire auf, als die Tür aufging und Mr Brecht herauskam. Er trug seinen langen Mantel und den Hut und zupfte den Schal um den Hals zurecht. Eine Zigarette zwischen den Lippen, hielt er inne und wölbte die Hand davor, um sie anzuzünden. Dann schob er sich, eine Entschuldigung murmelnd, an den Feiernden vorbei und in Richtung Hafenmauer.
Wenn ich gewollt hätte, hätte ich vorausrennen und Ellen und Jago warnen können.
Aber ich wollte nicht. Stattdessen folgte ich ihm dicht auf den Fersen in der Schneise, die er sich durch die Menge bahnte.
Als er sie erblickte, blieb er abrupt stehen. Er starrte Ellen und Jago an, der mit beiden Händen ihr Gesicht umfasst hielt. Ellen hatte ihre Arme unter Jagos Mantel geschoben und seine Hüften umschlungen, und sie küssten sich eng aneinandergeschmiegt. Die Boote, die im Hafen schaukelten, hießen das neue Jahr mit lautem Tuten ihrer Nebelhörner willkommen. Die Kirchenglocken läuteten noch immer, und im ganzen Hafenviertel erklang aus vollen Kehlen Auld Lang Syne . Der Himmel wurde vom Feuerwerk erhellt. Alle feierten
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