Das Dornenhaus
und lagen sich in den Armen, außer mir und Mr Brecht.
Wir standen beide wie angewurzelt da und sahen zu.
SIEBENUNDDREISSIG
D er Dienstag nach dem Wochenende in Cornwall war das reinste Fiasko.
Alles ging schief.
Es begann bereits in der Nacht davor.
Ich hatte wieder einen Albtraum, der als grandioser Technicolor-Traum einsetzte. Jago und ich waren wieder Kinder, und er liebte mich noch, und ich war so glücklich, dass ich meine Freude am liebsten hinausgeschrien hätte. Es war Ellens Geburtstag und wir machten uns mit Geschenken auf den Weg nach Thornfield House. Irgendwie wusste ich, dass Haus und Garten mit Luftballons und Wimpeln geschmückt sein würden. Ich stellte mir Ellen in einem rosa Rüschenkleid und weißen Söckchen und rosa Schleifen im Haar vor. Auch die kleine Straße erstrahlte in Rosa und Weiß, denn die Bäume standen in voller Blüte. Und die Vögel sangen, und Kaninchen hoppelten über die Böschungen. Es war wie die surreale Disney-Verfilmung einer kitschigen, klischeehaften Kindheitswelt. Mein Traum gaukelte mir vor, dass all die schlimmen Dinge, die passiert waren – Ellens Tod und Jagos überstürzter Weggang –, gar nicht stattgefunden hatten, sondern dass alles gelogen war. Jago und ich hielten uns an den Händen, und er sah mich lächelnd an, während wir im Sonnenschein die Straße hinaufgingen. Doch plötzlich sprang Mr Brecht vor uns auf die Straße. Er trug einen Kampfanzug, eine Sturmhaube über dem Gesicht und war mit einem Gewehr bewaffnet.
»Ich werde dir nicht wehtun«, sagte er zu Jago. »O nein, ich werde dich töten!« Dann setzte er das Gewehr an die Schulter und drückte ab, und der Knall war so laut, dass ich davon erwachte, aber nicht ohne im Traum noch zu erleben, wie Jagos Blut mich bespritzte.
Ich hatte im Schlaf geweint. Nun ging ich ins Wohnzimmer, schob einen Stuhl an den Bücherschrank, stieg darauf und holte meinen Notfallvorrat an Schlaftabletten herunter, den ich dort aufbewahrte. Wenn ich die Tabletten nahm, hatte ich keine Träume, aber ich musste das Medikament sparsam verwenden, weil die Ärzte sie einem nur ungern verschrieben und ich fürchtete, abhängig zu werden, wenn ich sie regelmäßig einnahm. Lily war hinter mir hergetapst und forderte miauend meine Aufmerksamkeit. Ich hob sie hoch, drückte sie wie ein Baby an mich und ließ mich von ihrer Wärme und der Weichheit ihres Fells trösten.
Normalerweise begnügte ich mich mit einer halben Schlaftablette, aber da es schon nach zwei Uhr nachts und ich so verzweifelt war, schluckte ich eine ganze und spülte sie mit Wasser herunter. Dann schlüpfte ich wieder ins Bett und spürte, wie Stück für Stück eine künstliche, aber köstliche Ruhe von meinem Körper Besitz nahm, bis ich schließlich in den Zustand seliger Vergessenheit hinüberdriftete.
Ich schlief tief und fest, aber der Preis dafür war, dass ich den Wecker überhörte, der wenige Stunden später losging. Möglicherweise hatte ich ihn auch gehört, ihn aber im Halbschlaf ausgeschaltet.
Als ich schließlich mit Kopfschmerzen und einem Betäubungsmittelkater erwachte, war es schon nach neun Uhr. Ich war verwirrt und wie benebelt. Auf dem Weg ins Bad warf ich einen Blick in meinen Terminkalender. Für Viertel nach neun hatte sich eine Schulklasse zu einer Führung angemeldet. Ich rief Misty an, die versprach, für mich einzuspringen, bis ich eintraf. Ich wusch mich schnell, zog mich an und legte ein wenig Make-up auf. Ohne Frühstück oder auch nur ein Glas Leitungswasser zu trinken, verließ ich die Wohnung.
An der Bushaltestelle an der Ashley Road wartete ich zehn Minuten lang vergeblich auf einen Bus und beschloss schließlich zu Fuß zu gehen, nur um kurz darauf von einem Bus der Linie 13 überholt zu werden. Aber damit nicht genug. An der Ampel an der Ecke Jamaica Street war ein Unfall passiert. Eine leichenblasse Frau lief verwirrt auf dem Gehsteig auf und ab, während ein junger Mann neben seinem Motorrad, mit dem ihr Wagen offenbar zusammengeprallt war, von einem Notarztteam versorgt wurde. Seine Ledermontur hing ihm in Fetzen am Leib. Überall war Blut – auf dem Asphalt, auf den Glassplittern, mit denen die ganze Kreuzung übersät war, und auf dem von Glassplittern zerschnittenen Gesicht des Motorradfahrers. Sowohl die Frontseite des Autos als auch das Motorrad waren schwer demoliert.
»Ich habe ihn nicht gesehen«, stammelte die Frau immer wieder. »Plötzlich war er vor mir. Ich habe ihn nicht
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