Das Dornenhaus
denken, wenn seine Trauer um Anne abgeklungen war. Mit jedem Jahr, das verging, würde der Altersunterschied zwischen uns weniger ins Gewicht fallen. Ich schloss die Augen und malte mir aus, wie ich quer auf seinem Bett lag und er mich langsam entkleidete. wie ich das Becken hob, damit er mir die Jeans abstreifen konnte. Als seine Lippen meinen Bauch berührten, zitterte ich vor Erregung. Und dann sagte er: »Woran denkst du, Hannah?«, und ich kehrte verwirrt in die Wirklichkeit zurück. Ich überspielte meine Verlegenheit, indem ich einen Schwall enthusiastischer Erinnerungen an seine Frau hervorsprudelte.
In einem hübschen kleinen Restaurant aßen wir zu Mittag. Wir teilten uns eine köstliche Meeresfrüchteplatte und tranken Weißwein. Ich kam mir elegant, kultiviert und sehr erwachsen vor. Mr Brecht zeigte mir, wie man eine Garnele aus der Schale löst und wie man mit der Hummerzange die Scheren knackt, um an das Fleisch zu gelangen. Wir lachten über unsere Ungeschicklichkeit und wuschen die Finger in einer Schüssel Zitronenwasser. Anschließend spazierten wir durch die engen, steilen Gassen des Städtchens und durchstöberten die Galerien und Kunsthandwerksläden. Eingehüllt in unsere Mäntel und Mützen, trotzten wir dem Wind und fassten uns fröhlich unter. Am Abend führte Mr Brecht uns zu einem Candlelight-Konzert aus, das in einem großen Haus auf einem Hügel stattfand. Es war kein Klavier-, sondern ein Streichquartettkonzert. Während des Empfangs, der hinterher stattfand, unterhielt er sich mit Leuten aus der klassischen Musikszene, die er von früher kannte. Ellen und ich ließen uns die Kanapees schmecken und tranken reichlich Champagner, während wir durch die Reihen der Gäste schlenderten. Die geräumigen, lichten Zimmer waren mit winzigen glitzernden Lichtern geschmückt, an den Wänden hingen Bilder, deren Farben mir sehr gefielen. Ebenso wie die offene Architektur des Hauses, die ein reizvolles Spiel aus Licht und Schatten erzeugte. Verwundert stellte ich fest, dass ich mit meinem ländlichen Akzent und den rosigen Wangen keineswegs unvorteilhaft in dieser mondänen Umgebung auffiel, sondern, im Gegenteil, offenbar exotisch auf die anderen Gäste wirkte, Städter, die die Weihnachtsferien am Meer verbrachten. Jedenfalls schienen sich alle für mich zu interessieren, sie stellten mir Fragen, plauderten vergnügt mit mir, berührten mich am Arm, fanden mich »süß« und »reizend« und »so ungekünstelt«. Ich fragte mich, ob mich manche von ihnen für Mr Brechts Freundin hielten. Ich fühlte mich beschwipst und beschwingt und genoss den wunderschönen Abend in vollen Zügen, denn alles war so anders als mein normales Leben.
Obwohl es draußen kalt war, trat ich auf den Balkon und ließ den Blick über den Hafen hinweg und zu dem kleinen Hügel mit der angestrahlten Kapelle wandern. Mr Brecht war mir gefolgt. Er stellte sich hinter mich, so dicht, dass ich seine Wärme spürte. Der Rauch seiner Zigarette hüllte mich ein, und ich stützte mich mit den Armen auf das Balkongeländer.
Plötzlich fuhr er mit den Händen unter meinen Mantel und umfasste meine Taille. Unwillkürlich zog ich den Bauch ein, um mich schlanker zu machen.
»Hannah«, sagte er mit den Lippen nah an meinem Ohr. »Hast du den Tag genossen?«
Ich nickte.
»Gut. Ich wusste, dass es dir hier gefallen würde. Wir sind uns nämlich in gewisser Weise ähnlich.«
Dann küsste er mich auf den Hals, unterhalb meines Ohrs, nur einmal, aber dieser Kuss brannte sich für immer in meine Haut ein.
Obwohl ich mir im Rückblick nicht mehr sicher bin, ob er tatsächlich stattfand, dieser Kuss.
Ich kann es nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen.
Vielleicht bildete ich es mir auch nur ein. Ich war betrunken. War lebenshungrig. Hatte mich schon den ganzen Tag meinen Phantasien in Bezug auf Mr Brecht hingegeben. Und doch fühlt es sich auch jetzt, nach über zwanzig Jahren, so an, als wäre dieser Kuss das Wirklichste gewesen, was mir je passiert ist.
Wieder zu Hause, irritierte mich die Enge unserer Cottages mehr denn je. Alles war alt und schäbig, die Zimmer überladen, die geschmacklosen Muster und Farben der Teppiche und Vorhänge passten nicht zueinander. Die Regale und Schränke waren mit Nippsachen vollgestellt.
In der Woche zwischen Weihnachten und Neujahr fand ich jeden Tag einen Grund, um nach Thornfield House hinaufzugehen. Mr Brecht trank Wein und unterhielt Ellen, Mrs Todd und mich mit
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