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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Turney
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gesehen.«
    Niemand beachtete sie. Die Fußgänger machten einen Bogen um sie herum, fürchteten, von ihr angesprochen zu werden.
    Plötzlich sah ich wieder Ellen vor mir. Ich erinnerte mich an den verstörten Ausdruck auf ihrem Gesicht, als ich sie auf der Holzbank hinter dem Friedhof gefunden hatte, und schämte mich. Sie war damals fast noch ein Kind und hatte bestimmt einen Schock erlitten, als sie zusehen musste, wie ihr Vater den Garten ihrer Mutter verwüstete. Jago hatte ihre Not ausgenutzt, und ich hatte sie alleingelassen. Warum hatte ich nichts unternommen? Warum hatte ich nicht wenigstens meinen Eltern erzählt, was vorging? Ich sagte mir, dass die Situation bei ihr zu Hause nicht so schlimm war, wie Ellen es beschrieb. Auch anderen gegenüber hatte ich das gesagt. Obwohl ich mit eigenen Augen gesehen hatte, was Mr   Brecht angerichtet hatte. Ich wusste es. Ich wusste es schon damals und habe nichts getan, nein, schlimmer noch, ich hatte Verständnis für ihn. Ich träumte sogar von einer gemeinsamen Zukunft mit ihm. Ich dachte, dass ich ihn liebte.
    Der Tag hatte schlimm begonnen, und als ich im Museum eintraf, kam es noch schlimmer. Misty richtete mir aus, dass ich bei der Schulbehörde anrufen sollte. Normalerweise war das eher ein gutes Zeichen. Vielleicht wollte eine unserer Partnerorganisationen eine Führung buchen, oder die Abteilung für Naturgeschichte vom BBC interessierte sich für eine bestimmte Ausstellung. Also rief ich sofort zurück. In freundlichem, aber durchaus offiziellem Ton wurde mir daraufhin mitgeteilt, dass sich ein Schüler, der an einer Führung durch die Ausstellung »Leben auf unserem Planeten« teilgenommen hatte, beschwert habe, dass der wissenschaftlichen Erklärung der Evolution sehr viel mehr Raum gegeben worden sei als der schöpfungsgeschichtlichen.
    »Es ist so«, fuhr die Frau am anderen Ende der Leitung fort, »die Mutter des Schülers ist Stadträtin. Sie ist bekannt dafür, dass sie den Verfall von religiöser Moral beklagt. Und erntet damit in gewissen Kreisen der Öffentlichkeit Zuspruch und großes mediales Interesse.«
    »Was soll ich jetzt tun?«, fragte ich.
    »Seien Sie vorsichtig, was Sie wem gegenüber sagen. Es ist durchaus möglich, dass Sie an Ihrer Haustür von irgendwelchen Reportern befragt werden. Sobald sich jemand Ihnen gegenüber als Journalist identifiziert, ist er berechtigt, alles, was Sie äußern, wiederzugeben, also sagen Sie lieber nichts. Unsere Pressestelle arbeitet gerade eine offizielle Erklärung aus.«
    »O Gott.«
    »Machen Sie sich keinen Kopf deswegen«, sagte die Frau, deren Tonfall alles andere als überzeugend klang, »wir haben ständig mit derlei Beschwerden zu tun.«
    Ich bemühte mich, meine Kränkung herunterzuschlucken, aber es gelang mir nicht. Schon hatte ich das Gefühl, öffentlich an den Pranger gestellt zu werden. Ich fragte mich, ob irgendwelche Journalisten bereits dabei waren, meinen persönlichen Hintergrund zu recherchieren. Was, wenn sie herausfanden, dass ich vor einigen Jahren einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte? Oder wenn sie Ellens Geschichte ans Tageslicht zerrten?
    Die Angst jagte meinen Adrenalinspiegel in die Höhe und beschleunigte meinen Herzschlag. Es war noch nicht einmal Mittag, und ich fühlte mich schwindelig und benommen.
    Um die durch mein Zuspätkommen versäumte Zeit aufzuholen, machte ich keine Mittagspause. Stattdessen brachte ich eine Sammlung von Thecodontosaurus-Fossilien ins Archiv zurück. Während ich die Beschreibung und den Aufbewahrungsort der Knochen dokumentierte, war ich mir fast sicher, beobachtet zu werden. Immer wieder meinte ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung auszumachen; zwischen den Stellagen schien etwas hin- und herzuhuschen, sich vor mir zu verbergen, während es mich beäugte. Ich bemerkte ein schattenhaftes Flattern wie das einer Fledermaus und hörte ein Geräusch wie aus weiter Ferne. Es klang wie Ellens Schluchzen in meinen Träumen. Ich warf einen vorsichtigen Blick zu den Todesmasken, zwang mich, sie anzusehen, mich davon zu überzeugen, dass sie sich nicht bewegten. Doch plötzlich war ein Krachen zu hören, als sei etwas von einem der Regale gefallen.
    Erschrocken drehte ich mich um. »Wer ist da?«, rief ich. »Wer ist da?«
    Aber es kam keine Antwort, und auch als ich den Boden absuchte, entdeckte ich nichts Auffälliges.
    Ich kehrte nach oben ins Büro zurück. Mir blieben noch fünfzehn Minuten, bis die Nachmittagsführung für das Women’s

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