Das Dornenhaus
Institute begann. Auf meinem Weg vom Archiv ins Büro sah ich die Teilnehmerinnen im Foyer. Es waren ungefähr vierzig Frauen jeden Alters in sommerlichen Sommerhosenanzügen oder Kleidern mit leichten Strickjacken, die darauf warteten, dass die Führung begann. Über ihrem aufgeregten Geplauder hatten sie offenbar noch gar nicht den Tyrannosaurus Rex entdeckt, der über ihren Köpfen schwebte. Vielleicht kannten die meisten von ihnen das Museum bereits. Vielleicht konnte ein dreizehn Meter langes Monster mit Zähnen so groß wie ein Tranchiermesser diese Frauen nicht beeindrucken.
Als ich das Büro betrat, stand Misty am Fotokopierer und heftete Factsheets zusammen. Ich setzte mich auf einen Stuhl neben dem Tisch. Das Women’s Institute war eine Frauenorganisation, die der Kirche nahestand. Erwarteten sie von mir, dass ich der biblischen Schöpfungslehre das gleiche Gewicht einräumte wie der Evolutionstheorie? Was, wenn die Beschwerde aus ihren Reihen kam? Wenn sie gekommen waren, um sich Notizen zu machen? Kaum war der Gedanke geboren, setzte er sich in meinem Kopf fest. Ich konnte an nichts anderes mehr denken. Genauso musste es Mr Brecht ergangen sein, dachte ich. Aus einem bloßen Gedanken war eine feste Überzeugung erwachsen. Und im Grunde hatte er ja recht gehabt. Er war hintergangen worden. Wir alle hatten ihn belogen, hatten Geheimnisse vor ihm. Wir waren alle mitschuldig. Ich schloss die Augen und sah Ellens Gesicht. Es raste, immer größer werdend, auf mich zu, um dann wieder zu einem winzigen Nadelstich zu schrumpfen. Ich hatte Mühe zu atmen. Es ging mir gar nicht gut. Meine Gedanken überschlugen sich. Mir brummte der Kopf, der Boden neigte sich.
»Misty!«, rief ich, während ich vom Stuhl sackte und schmerzhaft mit dem Kopf gegen das Tischbein stieß. Mit der Wange auf dem rauen Teppich lag ich da, bei Bewusstsein, aber wie gelähmt. Es war nicht das erste Mal: Das Gleiche war mir ein paar Male in den unheilvollen Tagen vor meinem Zusammenbruch widerfahren. Ich wusste, ich musste mich dazu zwingen, langsam zu atmen, meine Panik zu kontrollieren und dann …
Mistys Gesicht tauchte mit schreckgeweiteten Augen vor mir auf. Sie schüttelte mich sanft an den Schultern.
»Hannah? Hannah? Was ist los? Was fehlt dir? Oh, mein Gott. Rina! Hilf mir! Mit Hannah stimmt etwas nicht. Ich glaube, sie ist tot!«
ACHTUNDDREISSIG
E s passierte nichts. Ich hatte erwartet, dass Mr Brecht seine Wut an Ellen auslassen oder dass er zu uns nach Hause kommen und sich bei meinen Eltern darüber beschweren würde, dass Jago Ellen geküsst hatte. Aber nichts dergleichen geschah.
In der ersten Zeit nach Silvester lag ich oft schlaflos im Bett. Erst wenn Jago von seinen nächtlichen Ausflügen nach Hause kam, schlief ich endlich ein. Ich war überzeugt, dass Mr Brecht ihm auflauern würde, aber dem war nicht so. Jedes Mal kehrte Jago in den frühen Morgenstunden zurück, legte sich noch ein, zwei Stunden ins Bett und nahm wie immer im Halbschlaf die Tasse Tee entgegen, die meine Mutter ihm brachte, wenn sie ihn um sieben weckte.
Nachdem ein paar Wochen verstrichen waren, ohne dass sich etwas Schlimmes ereignete, entspannte ich mich allmählich. Ich war mir ziemlich sicher, dass mir mein Vater gehörig die Leviten gelesen hätte, hätte er mich eng umschlungen mit einem Jungen in der Öffentlichkeit erwischt. Mr Brecht hingegen schien sich mit der Situation abgefunden zu haben. Mehr noch, er verzichtete darauf, Ellen überhaupt wissen zu lassen, dass er sie mit Jago zusammen gesehen hatte, weder demütigte noch beschämte er sie. Mein Respekt für ihn wurde noch größer, ich fühlte mich in meiner hohen Meinung über ihn bestätigt. Er war ein guter Mensch, ein verständnisvoller Vater, ein im Grunde sanftmütiger Mann, den Schmerz und Trauer zeitweilig aus der Bahn geworfen hatten.
Und dann …
Eines Tages Anfang März, als ich bei Ellen war, kam Mrs Todd mit Getränken und einem Teller Sandwiches in Ellens Zimmer. Sie schloss leise die Tür hinter sich und sagte: »Ellen, dein Vater glaubt, dass jemand im Haus war. Ein Eindringling.«
Ellen errötete. Sie ließ den Kopf sinken, um das Gesicht hinter ihrem Haar zu verbergen. Und mir stieg ebenfalls das Blut in die Wangen, als wäre ich mitschuldig.
»Wie kommt er denn darauf?«, fragte Ellen.
»Er hat Fußabdrücke in den Blumenbeeten an der Vorderseite des Hauses entdeckt. Außerdem muss jemand an ein paar Gegenständen im Haus gerührt
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