Das Dornenhaus
eingegangen, die meisten davon von Julia. Ich fühlte mich hilflos. Nutzlos. War völlig durcheinander. Zweifellos lief ich Gefahr, den Bezug zur Wirklichkeit zu verlieren. Normalerweise war ich gut organisiert. Meine Kollegen nahmen mich gern wegen meiner peniblen Pünktlichkeit und meines Ordnungssinns auf den Arm, weil ich immer alles katalogisierte, schriftlich festhielt und dafür sorgte, dass die Dinge in der richtigen Reihenfolge und termingerecht erledigt wurden. Und nun war ich nicht einmal mehr in der Lage, eine Verabredung einzuhalten.
Gerade, als ich mich bei Julia mit einer SMS entschuldigen wollte, spürte ich eine Hand auf meinem Arm.
Es war Charlotte.
»Hallo, Hannah«, sagte sie.
»Oh, hallo«, erwiderte ich so kühl ich es vermochte. Sie hielt mir ein Glas hin.
»Ich habe dir einen Drink mitgebracht. Misty hat mir gesagt, dass du gern Weißwein trinkst.«
»Danke, aber im Moment trinke ich Cidre.«
»Oh.« Sie stellte das Glas vor mir auf den Tisch.
»Du kannst ihn ja später trinken«, sagte sie. Ich dachte, dass ich ihn eher ins Blumenbeet gießen würde.
Charlotte blieb unschlüssig stehen und spielte mit ihrem Haar.
»Gibt es noch etwas?«, fragte ich. »Ich würde mich nämlich gern noch mit ein paar Leuten unterhalten.«
Charlotte seufzte. »Ja, es gibt noch etwas. Herrgott, ist mir das unangenehm. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, Hannah, jedenfalls neulich, in dem Pastetengeschäft …«
»Ich habe John nichts erzählt.«
»Ich weiß, danke. Ich wollte einfach nur … Nun, er hat mir gesagt, dass ihr zusammen nach Berlin fahrt. Zu dieser Konferenz.«
»Ja.«
»Hannah, ich weiß, was du von mir denkst, und du hast ja recht. Ich bin ein Miststück. Ich bin feige und schwach. Und ich weiß, ich habe kein Recht, dich um etwas zu bitten, aber ich tue es trotzdem. Bitte, sag John nichts, wenn ihr in Berlin seid, ja?«
»John ist mein Freund, Charlotte. Ich respektiere ihn.«
»Das weiß ich, und deswegen bitte ich dich, es mir zu überlassen, es ihm auf meine Weise zu sagen.«
»Aber das hättest du doch längst tun können.«
»Sicher. Aber es war einfach noch nicht der richtige Zeitpunkt dafür.«
Ich schnaubte verächtlich.
»Es ist nur so …« Charlotte seufzte und blickte in den Himmel. Sie knetete ihre hübschen, schmalen Hände mit den manikürten Nägeln. »Ich weiß ja, wie es auf diesen Konferenzen zugeht, Hannah. Ich habe selbst an unzähligen teilgenommen. Man langweilt sich zu Tode, hat es vorwiegend mit überheblichen alten Trotteln zu tun, bis auf wenige Ausnahmen wie dich natürlich … was ich sagen will, ist … Bitte, Hannah, sag John nichts. Ich will nicht, dass er es aus zweiter Hand erfährt, überlass das mir, ich …«
Sie unterbrach sich abrupt und lächelte jemandem zu, der hinter mir stand. Ich drehte mich um, es war John. Er schob sich hinter meinem Stuhl vorbei und stellte sich neben Charlotte. Ich sah, wie er die Hand ausstreckte und ihre ergriff. Charlotte sah mich mit einem verzweifelten Lächeln an. John hob die Hand seiner Frau an die Lippen und küsste sie. Charlotte schien den Tränen nahe. Aber ich hatte kein Mitleid mit ihr.
»Redet ihr über Berlin?«, fragte er. »Charlotte freut sich, dass du mich begleitest, Hannah. Damit ist sie fein aus dem Schneider, nicht wahr, Liebling?«
Charlotte rang sich ein Lächeln ab.
»Aber wir werden nicht nur arbeiten«, fuhr John fort. »Wir werden uns den Aufenthalt so angenehm wie möglich machen. Wahrscheinlich werden wir uns den Hintern bei einigen langweiligen Meetings plattsitzen und Small Talk mit irgendwelchen bedeutenden Intellektuellen machen müssen, aber wenn du möchtest, werde ich das Museum, so gut ich kann, allein vertreten. Dann kannst du tun, was du möchtest. Im Bett bleiben, Filme ansehen, Gin trinken …«
Mir war nicht nach Lachen zumute.
»Macht es dir nichts aus, wenn dein Mann mit einer anderen Frau verreist?«, fragte ich Charlotte spitz. »Wirst du dich nicht einsam fühlen?«
Charlotte schluckte. Ihr Gesicht war angespannt. »Es ist ja nicht das erste Mal«, sagte sie. »Und ich habe genug zu tun.«
»Warum sollte ihr das etwas ausmachen, Hannah?« John war ein bisschen beschwipst und wedelte aufgekratzt mit seinem Glas in der Luft. »Diese Reise ist im Grunde nur ein kurzer Kulturtrip, und zusätzlich hat man die Gelegenheit, sich ein wenig über die dialektale Beziehung zwischen den Kuratoren und dem Publikum auszutauschen.«
»Aber …«
»So, meine
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