Das Drachenboot
Verblüfft hielt er den Bohrer in der Hand, den er vermißt hatte. Während er ihn am Ärmel abputzte und die Sandkörner wegrieb, die im Fettmantel hängengeblieben waren, ließ er den Blick über den Fundort schweifen: er befand sich mitten auf Högnis Zeltplatz. Wie kam Högni zu seinem Bohrer? Und plötzlich fiel ihm auch wieder der Lauscher in Högnis Zelt ein. Hatte er das Schiff durchsucht, den Sklaven laufenlassen, damit er ihn nicht verriet, und dann ihn, Folke, niedergeschlagen, weil er sich erwischt sah? Daß sein Bohrer hier gelegen hatte, öffnete plötzlich vielerlei Möglichkeiten, den Tathergang zu erklären.
Hjalti beobachtete die Wetterentwicklung mit Besorgnis. Schweren Herzens verzichtete er auf Rache und entschied sich für die Heimfahrt. »Hrolf!« sagte er laut. »Wir gewinnen nichts, wenn wir dem Kaufmann hinterherfahren. Er läuft uns nicht weg! Wir werden im nächsten Jahr zurückkehren. Viel Freude wird er an seinem Verrat nicht haben. Für uns wird es dringend Zeit, nach Hause zu fahren.«
Die Leute sahen ihn mißmutig an, wagten aber keinen offenen Widerstand. Ulf, Finn und Bolli steckten die Köpfe zusammen. Sie hatten bereits mit der Beute geliebäugelt. Hrolf ballte sichtbar die Fäuste, und Bolli stimmte ihm lauthals zu.
Der einzige, der nichts dazu sagte, war Alf. Aber er knirschte mit den Zähnen, und Folke hörte es genau. Außerdem sah er etwas: Auf der Straße, die vom Dorf an den Strand führte, schritt das Mädchen Aud heran, und an ihren suchenden Blicken konnte jeder erkennen, daß ein Anliegen sie zu den Männern des »Grauen Wolfs« führte.
Aud war gerade rechtzeitig gekommen, um die Mannschaft abzulenken. Sie beachtete die neugierigen und abschätzenden Blicke der Männer jedoch nicht. In aller Ruhe sah sie sich selber um. Unter dem Arm trug sie einen mit einem Tuch verhüllten Gegenstand.
»Wer ist euer Anführer?« Hjalti lächelte gezwungen. »Mich suchte noch nie ein Bote im Frauenrock auf«, sagte er, »aber du siehst ganz wie einer aus. Ich bin Hjalti und führe dieses Schiff, und wenn du tatsächlich ein Bote bist, so bin ich der, den du suchst.« Aud nickte und wickelte den Gegenstand aus. Sie reichte ihn Hjalti. »Kennst du diesen Helm?«
Die zwei Adern an Hjaltis Schläfen traten hervor wie Wurmspuren im Schlick, als er an das Gespräch mit Högni zurückdachte, und seine Antwort klang gepreßt. »Ich kann mich nicht erinnern, mit einer Frau gehandelt zu haben. Wollte ich den Helm zurückhaben, würde ich mich an den Kaufmann wenden, der sich Högni nennt. Du kannst ihm das sagen!« Hjalti konnte seinen Zorn nur mühsam bändigen, aber Aud ließ sich nicht von ihm beeindrucken. »Högni mußte Erri verlassen«, erklärte sie kühl. »Ich habe Vollmacht, für ihn zu verhandeln.«
»Verlassen!« schnaubte Hjalti. »Geflohen ist der fette Kerl, der selber nicht weiß, ob er Mann oder Weib ist...«
Die Männer lachten unterdrückt, aber Aud hielt Hjalti geduldig den Helm entgegen. »Du wolltest den Handel«, erinnerte sie ihn.
Widerwillig gab Hjalti zu: »Ich gab ihn Högni vor wenigen Stunden als Zeichen und als Pfand.«
»Und als Pfand sollst du ihn zurückhaben«, sagte Aud, »so hat es Högni bestimmt, bevor er abfuhr. Als Pfand für sein Versprechen, im nächsten Sommer einhundert Sklaven von dir zu übernehmen. Du sollst nur nicht vergessen, ihm mitzuteilen, wann und wo er sie übernehmen soll, läßt er dir sagen.«
Hjalti, der den Helm zögernd aus Auds Hand nahm, blickte auf die See hinaus, wo sie sich fast schon befunden hätten, wenn nicht das Wetter und seine Vorsicht ihn davon abgehalten hätte. Enttäuschung mischte sich in seine Wut auf den Mann. Es war so einfach gewesen, dem Kaufmann die Schuld am Tod des Sklaven zu geben.
»Ein Kaufmann, der stiehlt, ist nicht ungewöhnlich«, warf Aslak ein, der auf einem großen Stein saß und anscheinend nichts Wichtigeres zu tun hatte, als sein Messer zu schärfen. Mit dem Daumen fuhr er an der Messerschneide entlang, die er eben am Stein gewetzt hatte. »Ein Kaufmann, der seine Ware erschlägt, wäre ein sonderbarer Mann.«
Hjalti schluckte seinen Zorn mit einem tiefen Atemzug hinunter. »Und was glaubst du nun: Ist Högni ein Dieb oder ein sonderbarer Mann?«
Aslak verwahrte das Messer sorgsam in der Scheide, die an seinem Gürtel hing, und stand auf. »Er ist weder ein Dieb noch ein sonderbarer Mann«, stellte er fest. »Aber ein kluger Mann ist er. Er hat vorausgesehen, daß ihn in deinen
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