Das Drachenkind (Die Drachenschwestern Trilogie) (German Edition)
Irgendwie half ihr
diese Erkenntnis sogar ein wenig, Sierras Reaktion von gestern zu verstehen.
Den Tonfall fand sie immer noch nicht gut. Über den Inhalt war sie heute
immerhin bereit nachzudenken.
Voller
Tatendrang sprang sie aus dem Bett. Sehr zur Freude von Chili, der sein Glück
kaum fassen konnte, dass er sein Frauchen wieder ganz für sich hatte. So wie es
aussah, würde er sogar ein frühes Frühstück bekommen. Um Miri seine Dankbarkeit
auszudrücken, würde er ihr heute Nacht eine Maus bringen, überlegte er. Oder
zwei. Oder eine, die noch lebte. Dann spielte sein Frauchen jeweils so schön
mit und versuchte das kleine graue Ding zu überreden, in eine Röhre zu
kriechen. In der Zwischenzeit hatte sie ihm das Futter vor die Nase gestellt.
Er fing an zu fressen, begleitet von einem zufriedenen Schnurren.
Miri
brühte sich eine Tasse Kona-Kaffee auf und ertappte sich dabei, wie sie zwei
Tassen bereitstellte. Sie hatte sich in dieser kurzen Zeit wohl schon sehr an
ihre geflügelte kaffeesüchtige Begleiterin gewöhnt. Sie atmete den Duft ein und
rief sich in Erinnerung, dass es einzig und allein ihre eigene Entscheidung
gewesen war, Maxi wegzuschicken und dass es in diesem Falle ganz schön dumm
war, deswegen Trübsal zu blasen. Sie warf einen Blick auf die Küchenuhr. Zehn
Minuten nach Sechs. Wenn sie Glück hatte, würde sie noch ein paar Nachrichten
zu hören kriegen. Sie schaltete ihr antiquiertes Radio ein. „Und hier das
Wetter. In der Nordostschweiz Schneeregen, am Abend Schnee bis in die
Niederungen. In den Alpen und im Süden sonnig…“
Miri
ließ ihren Blick nach draußen schweifen. Das einzig farbenfrohe war Chilis
Pelz. Der Rest war grau. Und wahrscheinlich bald nass. Sonne wäre schon toll,
dachte sie bei sich. Plötzlich hatte sie eine Idee. Sie hatte zwar kein Geld,
um so richtig in den Süden zu fliegen. Aber sie konnte mit dem Zug ins Tessin
fahren. Dort würde sie eine Tageswanderung unternehmen, die Sonne genießen und
hoffentlich ihren Kopf frei genug bekommen, um Antworten zu finden. An einem
Tag konnte sie einen Teil der Strada alta, die hoch über dem Valle Leventina
entlang führte, schaffen. Sie strich sich ein zusätzliches Stück Brot mit
Butter und Konfitüre. Zum Wandern brauchte man Kraft. Jawohl. Sie biss herzhaft
hinein. Mit dem Zug und Postauto brauchte sie schätzungsweise drei Stunden von
Zürich bis Lurengo. Sie holte ihr Smartphone aus der Tasche und prüfte kurz den
Fahrplan. Der nächste Zug fuhr kurz nach sieben Uhr. Den musste sie auch
dringend erwischen, wenn sie die Strecke, die sie im Kopf hatte, bei Tageslicht
schaffen wollte. Das war im Dezember gar nicht so einfach. Wenn sie sich
richtig erinnerte, brauchte man für die Strecke von Lurengo nach Rossura Paese
ungefähr vier Stunden. Halb elf, halb drei, rechnete sie im Kopf. Plus eine
halbe Stunde Mittagspause in Osco. Schnell beendete sie ihr Frühstück und
packte das Nötigste in einen kleinen Wanderrucksack. Regenschutz brauchte sie
keinen, ihre Windjacke war wasserfest. Auf ihre alten, gut eingelaufenen
Wanderschuhe war ebenfalls Verlass. Aber eine kleine Reiseapotheke, eine
Thermosflasche mit Kräutertee, ihr heißgeliebtes Sackmesser, das einst ihrem
Vater gehört hatte, einen Apfel sowie eine Packung geschälter Mandeln wurden im
Rucksack verstaut. Brötchen und die lebensnotwendige Schokolade würde sie sich
am Bahnhof kaufen. Zu guter Letzt steckte sie ihren iPod ein.
Eine
Stunde später saß sie bereits im Zug. Ein Taschenbuch lag ungeöffnet in ihrem
Schoß, während sie die vorbeiflitzende Landschaft betrachtete und Musik von Lilly
Wood and the Prick hörte. Genau die richtige Musik zum Unterwegs sein. Sie
freute sich auf die Tour. Schon viel zu lange war sie nicht mehr in den Bergen
gewesen. Normalerweise fehlte ihr immer die Motivation, wenn niemand mitkommen
wollte. Heute war sie ganz froh allein zu sein. So musste sie mit niemandem
reden und konnte ungestört ihren Gedanken nachhängen. Das gleichmäßige Rütteln
des Zuges wirkte beruhigend auf sie. Leise hörbar atmete sie aus. Zum Glück
schien sie zu einer absoluten Minderheit zu gehören, mit ihrer Idee mitten im
Dezember ins Tessin zu fahren und musste die zwei gegenüberliegenden Sitzbänke
mit niemandem teilen. Sie beschloss, die Zeit im Zug zu einem kleinen
Nickerchen zu nutzen. Für tiefgründige Gedanken blieb später während ihrer
Wanderung immer noch genug Zeit, dachte sie und kuschelte sich in ihre
Windjacke, den Kopf an das
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