Das Drachenkind (Die Drachenschwestern Trilogie) (German Edition)
kalte Fenster gelehnt.
Erleichtert
kletterte sie um halb elf aus dem Postauto und winkte dem freundlichen
Chauffeur zum Abschied zu. Sie war froh, dass sie die kurvige Fahrt ohne
peinlichen Zwischenfall hinter sich gebracht hatte. Bereits die Strecke durch
den Gotthard mit dem Zug hatte ihren Magen auf die Probe gestellt. Sie litt
zwar nicht an der vielgefürchteten Morgenübelkeit, aber Passstraßen schienen
sich nicht mit ihrem durcheinandergebrachten Hormonhaushalt zu vertragen. Oder
der Wurm in ihrem Bauch hatte persönlich etwas dagegen. Sie erschrak, als sie
merkte, dass sie eben unbewusst ihre bis dahin so klinisch betrachtete
Schwangerschaft personifiziert hatte. Wenn auch nicht sehr schmeichelhaft als
Wurm.
Es
schien so, als hätte Sierra tatsächlich recht. Länger durfte sie ihre
Entscheidungsfindung nicht mehr hinausschieben. Sie schob die ungebetenen
Gedanken beiseite und schwang sich ihren kleinen Tagesrucksack auf den Rücken.
Wie auch immer, jetzt war sie an der frischen Luft, auf 1324 Meter über Meer,
und durfte die ersten Sonnenstrahlen genießen. Vor eineinhalb Stunden in
Airolo, wo sie vom Zug auf das Postauto umgestiegen war, war es noch ziemlich
neblig gewesen. Sie zog den Reißverschluss ihrer Windjacke bis zum Kinn hoch.
Hier wehte ein ziemlich kalter Wind vom Gotthard her. Sie hoffte, dass sich das
ändern würde, sobald sie weiter im Süden angelangt war. Miri wandte sich dem
Dorfausgang zu, wo ein Wegweiser sie in Richtung Wanderweg wies. Das erste
Stück der Strecke führte durch einen Fichtenwald. Sie genoss die Abwesenheit
jeglichen Zivilisationslärms und freute sich an den Geräuschen des Waldes. Hier
und da hörte sie ein Knacken aus dem Geäst. Ein paar Krähen flogen auf und
schienen ihr voraus zu fliegen. Amüsiert über ihre eigenen Gedankengänge musste
sie schmunzeln. Tief unter ihr, in der Piottino-Schlucht rauschte der Ticino
talwärts. Nicht, dass sie hier oben viel davon hörte, denn der Ticino war mehr
ein Flüsschen als ein Fluss und die Distanz war beträchtlich. Aber nachdem der
erste Schnee in diesem Winter bereits gefallen und wieder getaut war, führte er
bestimmt mehr Wasser mit sich als im Sommer.
Die
schwache Wintersonne kämpfte sich beharrlich hervor und schon bald stieg der
Nebel in mystisch an wirkenden Schwaden in den Himmel. Wunderschön. Sie war
froh, dass sie sich spontan zu diesem Ausflug entschlossen hatte und sie kam
gut voran. Schon bald wurde der schöne Waldweg abgelöst durch einen holprigen
Zickzackweg. Über Steine und Wurzeln führte der Weg steil bergab Richtung
Freggio. Anstrengender zwar, aber eigentlich auch interessanter, fand sie. Auch
wenn sie sich zwischenzeitlich mehr wie ein Geißbock als wie ein Mensch fühlte.
Langsam ließ der Wind etwas nach. Sie hielt kurz an, um einen Schluck Tee aus
der Thermoskanne zu trinken und sich die Nase zu schnäuzen. Kaum war Winter und
die Luft unter zehn Grad, lief ihre Nase ständig. Nachdem sie ihren Durst
gestillt und ein paar Mandeln stibitzt hatte, setzte sie ihren Weg fort. Für
eine richtige Pause war es noch zu früh. Wenn sie sich richtig erinnerte, gab
es in Freggio, dem nächsten Dörfchen auf ihrem Weg, eine Bank mit Aussicht auf
die Kehrtunnels der Gotthardbahn. Dort wollte sie ihren Apfel essen und zehn
Minuten Pause machen. Und nachdenken. Das ging bestimmt besser im Sitzen. Da
war sie sich ganz sicher.
„Ich
bin sicher, wenn du sitzt, hast du den Eindruck, das Gehen besser wäre“,
ertönte eine Stimme in ihrem Kopf, begleitet von einem verächtlichen Schnauben.
„Maxi?“,
fragte Miri irritiert. „Ich dachte, ich hätte dich um eine Auszeit gebeten?“
Auf nichts war Verlass. Noch dazu hörte sie sich an, als würde sie mit einem
Ex-Freund sprechen. Ungläubig schüttelte sie den Kopf und wäre beinahe über die
nächste große Wurzel gestolpert.
„Ähm“,
räusperte sich der Drache ertappt. „Vergiss es, ich bin gar nicht hier.“
Die
Stimme in ihrem Kopf und das Gefühl, das sie in Anwesenheit des Drachens immer
begleitete, verschwanden. Was sollte das denn jetzt, fragte sich Miri. Sie
dachte, sie hätte ihren ständigen Begleiter weggeschickt. Sie blickte sich um,
konnte aber nach wie vor keinen Drachen entdecken. Allerdings war es auch ein
Ding der Unmöglichkeit, einen Drachen zu finden, der nicht gefunden werden
wollte. So wie es aussah, war sie wohl doch nicht ganz alleine. Solange sie
sich nicht mehr einmischte, spielte es keine Rolle. Irgendwie war es
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