Das Drachentor ("Drachenkronen"-Trilogie) (German Edition)
immer mehr zur Gewissheit: Im entscheidenden Augenblick würde ihr die Kraft fehlen, und sie würde versagen. Die Welt erwartete so viel von ihr.
Rolana stand auf der Klippe, die mehr als hundert Meter lotrecht in die Tiefe stürzte. Winzig klein war sie, umgeben von Fels, das unendliche Meer lag zu ihren Füßen und über ihr wölbte sich der weite Himmel.
Ihr Meister hatte gesagt, sie würde Großes für die Welt tun, doch war es groß genug, um sie vor der Katastrophe zu retten, deren Sturmwolken sich am Horizont zusammenballten? Oder würde sie ihre Freunde alle ins Verderben stürzen, nur um dann im entscheidenden Moment zu versagen? Eine blasse Mondsichel stand über ihr am gläsernen Abendhimmel.
»Soma, hilf mir!«, flehte sie. »Sie vertrauen mir. Was kann ich tun, um sie nicht zu enttäuschen? Um die Welt nicht zu enttäuschen?«
Sie spürte seine Anwesenheit, noch ehe sie den Klang seiner Stiefel auf dem Fels hören konnte.
Cay. Wer sonst? Wie hatte sie auf den Gedanken kommen können, ihr Weggehen wäre seiner Aufmerksamkeit entgangen? Er hatte beschlossen, ihr Beschützer und Bewacher zu sein, und diese Aufgabe würde er erfüllen, egal was geschah, bis zu seinem – oder bis zu ihrem Ende. Rolana unterdrückte ein Seufzen. Dieses Mal jedoch fühlte sie keinen Unmut. Einsamkeit ließ sie frösteln. Sie selbst hatte diesen Schutzwall um sich herum errichtet. Cay wollte sie lieben, ihr Geborgenheit und Sicherheit schenken, aber sie ließ es nicht zu. Traurigkeit erfüllte sie.
»Ist das nicht ein wundervolles Stück Erde?«, sagte sie möglichst unbeschwert, drehte sich aber nicht um, aus Angst, er könnte die Verzweiflung in ihren Augen lesen.
»Ja, es ist schön. Ich liebe das Meer, und immer wenn ich Möwen kreischen höre, träume ich davon, wieder zur See zu fahren. Das waren meine schönsten Jahre – nun ja, die unbeschwertesten.«
Rolana nickte. Ja, damals galt es für ihn nur, die Befehle des Kapitäns auszuführen, mit den Matrosen und anderen Schiffsjungen bis zur Erschöpfung zu arbeiten und im Schlaf Kräfte für den neuen Tag zu sammeln, um wieder den Elementen zu trotzen. Da blieb keine Zeit zum Grübeln. Damals mussten Cay und die Männer nur ihre eigene Haut und das Schiff schützen und nicht die ganze Welt retten.
»Es war alles nicht so kompliziert«, fügte er hinzu, als wären seine Gedanken ähnliche fade gegangen.
»Ja, früher war es einfacher«, stimmte ihm Rolana zu. Sie dachte an ihre Zeit im Kloster zurück und stellte mit Erstaunen fest, dass – so verschieden ihre beiden Welten gewesen waren – sich das Leben in seiner Einfachheit geglichen hatte. Auch sie hatte getan, was man ihr gesagt hatte, war mit den älteren Brüdern unterwegs gewesen, um Kranke zu heilen, und abends erschöpft und zufrieden in den Schlaf gesunken. Keine Fragen, keine quälenden Zweifel.
Es könnte alles wieder so einfach sein, wenn sie sich nur auf den Wogen der Zeit dahingleiten ließe. Cay stand so nah hinter ihr, dass sie seinen Atem auf ihrer Haut spüren konnte. Sie musste es nur zulassen!
Wie so oft auf ihren Reisen hatte Rolana ihre Locken in einem strengen Knoten gebändigt. Der Wind hatte ein paar der kürzeren Strähnen gelöst und ließ sie ihr über Hals und Schläfen wehen. Cay neigte sich vor und legte seine Lippen auf ihren sonnenverbrannten Nacken. Rolana seufzte und schloss die Augen. Er küsste sie sanft, und als sie nicht protestierte, schob er sich langsam um sie herum, bis er sie eng an seine Brust drückte. Noch immer wehrte sie sich nicht gegen die Nähe, die sie so lange nicht mehr zugelassen hatte.
Cay lauschte ihrem Herzschlag und küsste ihre Stirn, die Wangen, die Ohren und dann den Mund. Rolana legte den Kopf leicht zurück und erwiderte die sanften Bewegungen.
Endlich! Die Verzweiflung hatte ihm fast den Verstand geraubt. Er hatte geglaubt, sie endgültig verloren zu haben, und schon oft erwogen, die Gefährten zu verlassen, wieder allein durch die Lande zu ziehen, um sein Schwert irgendeinem Herrn anzubieten, der seines Schutzes bedurfte. Bereits der Gedanke, Rolana zu verlassen, ließ sein Herz unerträglich schmerzen, doch vielleicht würde ihr Bild verblassen und seine Qual vergehen? Denn mit ihr zu reisen, jeden Tag in ihrer Nähe zu sein, sie beschützen, aber nicht berühren zu dürfen, war eine Folter, die immer qualvoller wurde. Er fühlte, dass es ihn Stück für Stück vernichtete, und dennoch konnte er nicht weggehen. Er hatte ihr geschworen,
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