Das Drachentor ("Drachenkronen"-Trilogie) (German Edition)
nehmen. Seradir seufzte. Er trat ans Fenster und öffnete die grünlich schimmernden Glasflügel, um frische Luft hereinzulassen. Die Menschen schlossen sich immer ein und fürchteten sich vor der Kälte. Seradir hatte in ihren Häusern und Burgen oft das Gefühl, ersticken zu müssen. So waren die Fenster in seiner Kammer stets geöffnet, egal welches Wetter und welche Temperatur draußen herrschten. Träumerisch sah der Elb über den See hinaus.
»Hab ich es mir doch gedacht, dass du hier bist und wieder Löcher in die Luft starrst«, hörte er die glockenhelle Stimme seiner Schwester durch seine Gedanken hallen. Wenn er die Augen schloss, dann konnte er sie auch sehen. Die junge Elbenfrau trat mit einem Hauch winterlicher Kälte in das einzige Zimmer des kleinen Baumhauses und schloss hinter sich die Tür. Achtlos ließ sie ihren Umhang aus feinem Wollstoff zu Boden gleiten und schüttelte ihr schneebedecktes Haar, das sie wie eine blauschwarze Wolke bis zu den Knien einhüllte. Ihr Gesicht war schmal, die Haut nahezu unwirklich sanft. Nur die spitzen Ohren ragten ein wenig frech zwischen ihren Locken hervor. Die beiden sahen sich auf geradezu verblüffende Weise ähnlich, auch wenn die Züge des Bruders ein wenig schärfer waren.
»Seradir, du bist unhöflich!«
Er sprang auf und schob ihr einen Stuhl hin. Er goss ihr Met ein und reichte ihr eine Schale mit eingelegten Früchten. Sie pickte zielsicher die süßesten heraus und schob sie in den Mund.
»Danke. Du scheinst deine gute Erziehung bei den Menschen also doch nicht völlig verlernt zu haben.«
Seradir zog eine Grimasse. »Tanichana, wenn du nur gekommen bist, um wieder über die Menschen zu schimpfen, dann iss deine Süßigkeiten und geh bitte wieder.«
Sie hob abwehrend die zierlichen Hände. »Aber nein. Ich möchte dich nicht in noch trübsinnigere Stimmung versetzen, wenn das überhaupt möglich ist. Nein, ich wollte dich fragen, ob du mich begleitest – zum Abendessen bei Vater. – Nein, sieh mich nicht so abweisend an. Ich verspreche, dass ich kein Wort über deine Menschenfrau verliere.«
»Sie heißt Lamina und ist die Gräfin von Theron!«
Tanichana zuckte mit den Schultern. »Nun gut, dann eben deine Lamina. Es tut mir leid, wegen des Ärgers, den du mit Vater das letzte Mal bekommen hast.«
Er wusste nicht, ob sie es ehrlich meinte. Jedenfalls war sie eine gute Schmeichlerin. Nun hob Seradir die Schultern. »Er hätte es irgendwann sowieso erfahren. Außerdem gibt es nichts, dessen ich mich schämen müsste!«
»Das sieht Vater aber anders«, sagte seine Schwester leise und schob sich die letzte Frucht zwischen die roten Lippen.
»Ich liebe sie! Sie ist jung, schön und geistreich, und sie führt ihre Grafschaft mit einer Umsicht, von der mancher Mann lernen könnte.«
Seine Schwester hob beschwichtigend die Hände. »Ja, ich weiß. Es ist ein Jammer, dass du so verblendet bist. Wie lange wird sie schön sein? Sie wird verblühen, wie das bei den Menschen so üblich ist, ehe du das beste Mannesalter erreicht hast. Und dann? Es gibt so viele bezaubernde Elbenmädchen.« Sie seufzte. »Ich hatte immer gehofft, du würdest dich eines Tages in Vivina verlieben.«
Seradir verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Ich weiß, sie ist deine beste Freundin, aber du kannst nicht ernsthaft hoffen, dass ich mich für dieses Schnatterweib interessiere.«
»Du bist gemein!«, rief Tanichana empört.
»Sie ist eine Klatschbase«, beharrte Seradir, doch dann lächelte er seine Schwester an und kniff sie schelmisch ins Ohr. »Oder warum, glaubst du, flüchtet dein Ehemann immer sofort zu mir, wenn deine liebe Freundin das Haus betritt? Auch er kann sie nicht lange ertragen.«
Es klopfte an der Tür, und die Erinnerungen an daheim verblassten.
»Das Bad ist gerichtet.« Veronique lud ihn ein, ihr zur neuen Badestube zu folgen, und bot an, seine Kleider für ihn zu reinigen.
Seradir folgte ihr in den kleinen überwölbten Raum im unteren Stockwerk, in dem zwei Wannen standen. Eine der beiden war mit warmem Wasser gefüllt und mit getrocknetem Lavendel und Rosenblättern bestreut. Der Elb zog sich aus und ließ sich ins Wasser gleiten. Sobald er die Augen schloss, begannen seine Gedanken wieder zu wandern. Dieses Mal zur Herrin der Burg, die ihn aus irgendeinem Grund so kühl empfangen hatte und ihm unmissverständlich klar zu machen suchte, dass das, was einmal zwischen ihnen gewesen war, der Vergangenheit angehörte, die sie vielleicht zu
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