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Das Drachentor

Titel: Das Drachentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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einer harten Frau verwandelt. Früher hatte sie mehr als hundert Kinder trösten müssen, nun waren die Kinder Erwachsene und brauchten nur noch selten ihre Hilfe.
    Oft hatte Igola vorgeschlagen, nicht nur junge Kriegswaisen, sondern auch ältere Myrdhaner in den Höhlen aufzunehmen. Doch Alasar schlug ihr solche Wünsche ab. Was er wollte, waren Kinder, die sich formen ließen, die sich ihm bedingungslos unterwarfen. Kinder, die hilflos und verängstigt waren. Erwachsene würden sich einem jüngeren Führer nicht beugen, das wusste Alasar. Er war Älteren gegenüber misstrauisch und hütete sich davor, jemanden in sein Reich zu lassen, der ihm seinen Platz streitig machen konnte. Igola kannte seine Gedanken nur zu gut, aber was sollte sie dagegen tun? Niemand konnte seine Stimme gegen Alasar erheben, dafür wurde er zu sehr geliebt. Zu sehr gefürchtet.
    Meistens saß Igola still in einer Ecke der Halle, die früher einmal die Schlafhalle der gesamten Gruppe gewesen war. Sie hatte ein Felllager, wo sie nähte, Schuhsohlen aus Leder für die Höhlenkinder schnitt oder Kleider aus der Wolle strickte, die Alasar durch heimliche Tauschgeschäfte mit reisenden Händlern beschaffte. Von vielen wurde sie liebevoll Mütterchen genannt, doch ein spöttischer Unterton lag in dem Namen. Igola spürte nur zu genau, dass die Kinder Erwachsene als anders, fremd empfanden, ja nahezu mit Feindseligkeit betrachteten. Schließlich waren die Einzigen, die sie noch besuchten, ihre beiden Söhne. Jeden Abend aßen sie gemeinsam, obwohl es inzwischen mehr eine tote Tradition als ein vertrautes Zusammensein war. Lediglich Gewohnheit band sie aneinander, die aufzugeben Tivam, wie Igola vermutete, wahrscheinlich gar nicht so schwergefallen wäre.
    Tivam hatte seine Suppenschale bereits geleert. Schweigend saß er da und beobachtete seine Mutter beim Essen. Sie hob die Schale bis an die Unterlippe und schlürfte bedächtig einen Löffel nach dem anderen. Ihre Bewegungen hatten eine Gemächlichkeit, die er früher geliebt hatte, doch jetzt fast unerträglich fand. Tivam kannte niemanden über zweiundzwanzig außer seiner Mutter. Sie kam ihm unnatürlich und merkwürdig vor. Während sie einen weiteren Löffel schlürfte, hob sie den Blick und sah ihn an.
    »Du hast wieder viel zu schnell gegessen. Schnell, schnell - alles ist bei dir schnell getan. Damit du deine Mutter schnell wieder verlassen kannst. Um zu den Kampfübungen zu gehen, schnell, schnell, schnell.«
    Tivam erwiderte nichts. Er sagte nie etwas, wenn seine Mutter ihn auf seine Fehler hinwies. Sie mochte ihn nicht, wie sie Rahjel mochte. Rahjel, ja, ihren großen Sohn liebte sie. Zu ihm sagte sie oft, er sehe seinem verstorbenen Vater ähnlich - er habe die gleichen schönen Augen voller Wärme. Zu Tivam sagte sie, er solle sich den stolzen Blick abgewöhnen. Aber Tivam machte sich im Grunde nicht viel daraus. Die Höhlenkinder waren seine Familie.
    Rahjel leerte ebenfalls seine Schale und schien, wie so oft in letzter Zeit, tief in Gedanken versunken.
    »Rahjel. Sag deinem Bruder, dass er nicht so eilig durchs Leben rennen soll. Wer schnell lebt, stürzt umso schneller in den Tod.« Rahjel sah zu Tivam hinüber und schenkte ihm ein unauffälliges Lächeln.
    »Und wer das Essen hinunterschlingt wie ein wildes Tier«, erklärte Igola und stellte ihre Schüssel behutsam auf den Boden, »der wird wie ein wildes Tier nie Ruhe für den Genuss finden. Sag das deinem Bruder, du bist für ihn verantwortlich.«
    Jetzt grinste Rahjel und fuhr über Tivams Lockenschopf. »Hast du gehört, Tivam? Und wenn du langsamer essen würdest, hättest du auch nicht so schnell wieder Hunger!« Tivam befreite sich aus seinem Griff. Er sprang auf und lief weg.
    »Ich bin bei den Kampfübungen!«, rief er noch, dann war er davon. Auch Rahjel schob seine leere Schüssel zur Seite und rieb sich den Nacken.
    »Ich seh mal nach, wie er vorankommt.« Damit beugte er sich zu Igola vor, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und verabschiedete sich.
     
    Rahjel ließ sich Zeit, während er durch die Gewölbe der Höhlen ging. Die meisten Kinder waren beim Abendessen und saßen auf Felsvorsprüngen und Felllagern. Feuer knisterten, Essensgeruch hing in der Luft. Die Gewölbe waren erfüllt vom Summen unzähliger Stimmen.
    Es wurde über die Drachen und über Alasars neueste Pläne gesprochen. Rahjel beschleunigte kaum merklich seinen Schritt, um nicht daran erinnert zu werden. Ihm missfiel insgeheim, was Alasar

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