Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Drachentor

Titel: Das Drachentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
Vom Netzwerk:
richtete sich ein einfaches Lager her. Eine Weile blickte sie in die tiefe Dunkelheit, die sie umgab. Sie vermisste den Stamm. Vielleicht vermisste sie in diesem Augenblick sogar Khaleios und die Elfen und ein Leben, das sie nie geführt hatte. Und ganz deutlich spürte sie die Sehnsucht nach etwas, das sie nie gekannt hatte: Frieden.
     
    Am frühen Abend des nächsten Tages erreichte Yelanah den Waldrand. Vor ihr lag eine weite, kahle Graslandschaft. Der Wind jagte silberne Wellen über die Hügelkämme. Die Wolken hingen dunkel über dem Land und warfen Schatten, wie Schiffsbäuche, die träge durch ein Meer ziehen. In der Ferne sah es aus, als hätte jemand die Wolken mit einem Pinsel zur Erde heruntergewischt, denn dort regnete es.
    Ein paar Meter weit konnte sie die Spuren der Karren und Pferde noch erkennen, die hier gewesen waren, doch weiter draußen hatte der Wind das Gras längst glatt gekämmt.
    Yelanah schloss die Fäuste und biss sich auf die Unterlippe, als ihr Herz zu rasen begann. Hilflosigkeit, Zorn, Verzweiflung durchwogten sie. Schließlich ließ sie sich zu Boden sinken, holte ein Bom hervor und aß. Sie machte große Bissen und schluckte viel zu schnell hinunter, doch sie schluckte damit auch ihre Tränen. Als sie fertig gegessen hatte, stand sie wieder auf, rückte ihren Quersack zurecht und ging los. Sie blickte nur zum Horizont, nur dorthin, als läge genau an diesem Punkt ihr Ziel.
    Revyn, dachte sie immer wieder. Wo bist du? Wo bist du nur?
    Und fast so, als hätten ihre festen Schritte und ihr entschlossener Blick ihren Verstand überlistet, gewann sie an Zuversicht. Sie würde ihn finden.
     
    Revyn fühlte sich wie ein Träumender. Links und rechts stützten ihn zwei Männer, und seine eigenen Füße stolperten mehr mit, als dass sie ihn trugen.
    Lichter und Gestalten zogen an ihm vorüber. Er machte sich nicht die Mühe, sie erkennen zu wollen. Er wurde bergauf gezogen, an feuchten Wänden vorbei, über schiefe Treppen, bis ihm ein starker Geruch entgegenschlug. Der Geruch von Blut und Krankheit und von Leid.
    Sie hatten einen langen, breiten Tunnel erreicht, den mehrere Gitterwagen säumten. Die meisten Wagen sahen arg mitgenommen aus - von den Kämpfen, in denen sie erbeutet worden waren, und von den gefangenen Drachen, die versucht hatten auszubrechen.
    In manchen Karren lagen mehrere Drachen. Dumpfe Schmerzenslaute erklangen und das Klappern von Hörnern, die pausenlos an den Gittern rieben. Revyn fühlte sich so von seinem eigenen Elend ausgefüllt, dass er kein Mitleid empfand. Alles in ihm war von Gleichgültigkeit betäubt.
    »Du musst die Drachen unbedingt heilen«, sagte Alasar neben ihm. »Von meinen Leuten haben sie bis jetzt jeden angegriffen, der sich ihnen genähert hat. Aber ich will keinen Drachen verlieren, verstanden? Keiner soll sterben. Ich brauche sie alle. Hörst du mich?«
    Revyn ging wortlos auf den ersten Wagen zu. Zwei Drachen lagen nebeneinander. Einer von ihnen hatte tiefe Schnittwunden an den Hinterbeinen, aus denen zähe Flüssigkeit rann. Der rechte Flügel hatte sich so in den festen Ledergurten verwickelt, dass er unnatürlich abstand. Außerdem ging ihm ein heller Striemen von der Brust bis zum Bauch. Wahrscheinlich hatte ein Speer ihn gestreift, als man ihn in den Karren gesperrt hatte.
    »Ich bin kein Arzt«, murmelte Revyn. »Ich habe nie irgendwelche Wunden geheilt. Weder von Menschen noch von Drachen.«
    »Wie lange dauert es, bis sie gezähmt sind?«, fragte Alasar ungeduldig. »Zähm sie einfach, dann kümmern wir uns um den Rest.«
    Offenbar hatte der Führer der Höhlenkinder keine Ahnung von Drachen. Wenn er gewusst hätte, welch schwierige und lange Prozedur es war, einen Drachen zu zähmen! Die meisten Drachen hier waren gar nicht in der Verfassung, sich auf gewöhnliche Art zähmen zu lassen. Sie würden dabei sterben, mit all den Verletzungen, die sie jetzt hatten. Und wenn sie es überlebten, würden sie sich dennoch nie ganz erholen und später bestenfalls hinken.
    Aber das alles sagte Revyn nicht. Stattdessen sah er Alasar an und erklärte: »Wenn ich alle Drachen gezähmt habe, lasst ihr mich frei. Dann kann ich gehen.«
    Alasar erwiderte seinen Blick. Im schummrigen Licht der Fackeln verschmolzen seine dunklen Augen mit den Schatten, die die Brauen warfen. »So soll es sein.«
    »Noch etwas.« Revyn holte langsam Luft. Das Sprechen strengte ihn an. »Ehe ich nicht alle Drachen gezähmt habe … benutzt ihr keine für den Krieg.

Weitere Kostenlose Bücher