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Das Drachentor

Titel: Das Drachentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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brauste aus der Tiefe empor und drang durch ihr Kleid und ihre Haare. Fast hätte sie den Armreif fallen gelassen, so sehr zitterten ihre Hände. »Woher weißt du das?«
    »Vielleicht hast du recht, Ardhes«, flüsterte er. »Ich bin ein Feigling. Ich sehe und weiß und lasse mich von meinem Wissen lähmen.«
    Ardhes fand endlich ihre Fassung wieder. Sie schluckte und kam zwei Schritte auf ihn zu. »Ist das eine Elfensache? Visionen?«
    Eine Weile schwieg Octaris. Dann schüttelte er kurz den Kopf. »Es ist eine Gabe, die keinem Volk gehört. Sie gehört den Göttern, und die können die Gabe vergeben, an wen auch immer sie wollen.«
    Ardhes wurde ganz mulmig zumute. Ihr war, als entdecke sie erst jetzt ein Geheimnis, das die ganze Zeit vor ihrer Nase gelegen hatte: Natürlich, sie wusste, dass ihr Vater hellsichtig war. Aber bis jetzt hatte sie seine Visionen nicht ernst genommen, als elfische Eigenheit abgetan. Tatsächlich hatte sie sich noch nie Gedanken darüber gemacht, wer ihr Vater war - außer dass er ein Elf war.
    »Was genau siehst du, wenn du hier draußen liegst?«
    »Alles.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Die Geschichte der Welt. Den Tod der Elfen. Den Tod der Menschen. Das Ende von allem. Den Beginn des Neuen … Kennst du Ahiris?« Ardhes musste sich zwingen, den Kopf zu schütteln. Der fremde Name klang machtvoll und großartig.
    »Ich habe dich vernachlässigt. Ich habe dich die Dinge nicht gelehrt, die du als meine Tochter wissen solltest. Ahiris …« Er beugte sich vor. »Ahiris ist ein Gott.«
    »Ein Gott der Elfen«, schloss Ardhes. Sie wollte sich damit beruhigen, doch es gelang ihr nicht recht.
    »Ahiris ist das Leben. Ahiris heißt Schicksal.« Sein Blick schweifte hinaus in die Nacht. »Die Elfen verehren seit Anbeginn der Zeit Geister und halbgöttliche Wesen. Doch nur einen vollkommenen
    Gott gibt es, und das ist Ahiris, der Vater des Himmels und die Mutter des Lebens zugleich. Ahiris hält die Zügel der Welt in den Händen und gebietet über Leben und Tod, Sieg und Niederlage, Anfang und Untergang.«
    »Und du beobachtest … was Ahiris tut?«, fragte Ardhes zögerlich.
    Octaris nickte. »Es gibt einen Begriff in meiner Sprache. Die ganze Welt besteht aus Millionen und Abermillionen Seelen und Wesenheiten, doch manchmal, zu besonderen Wendepunkten der Zeit, da bestimmen wenige Helden und Schurken die Zukunft aller mit ihren Taten. Diese Helden und Schurken nennt man Ahirah - Töchter und Söhne von Ahiris. Sie sind gut oder böse, so wie das Leben selbst. Aber in ihnen schlummern göttliche Mächte.«
    Ardhes trat einen kleinen Schritt näher. »Wer sind diese Menschen?«
    »Nicht nur Menschen, Ardhes. Sie sind wie du … oder wie ich. Die meisten Ahirah unseres Zeitalters sind noch jung. Doch zu gegebener Zeit werden sie mein und dein Schicksal bestimmen. Sie kommen wie gesagt zu großen Wendepunkten und uns steht ein solcher bevor. In den Visionen suche ich die Ahirah. Und verfolge ihre Geschichten.«
    Eine Weile stand Ardhes reglos vor ihm. Was Octaris wohl wusste über diese Auserwählten? Und was er alles konnte, im Verborgenen?
    Sie schloss den Armreif um ihr Handgelenk. Heute Nacht hatte sie also das Geheimnis ihrer Eltern entdeckt, das ihrer Mutter und das ihres Vaters.
    »Bis bald«, murmelte sie gedankenvoll. Es war ein Versprechen. Mit leisen Schritten ging sie.

Schwere Zeiten
    Der Winter war mit den Haradonen ins Land eingebrochen. Seit dem ersten Schneefall tobten Stürme und heulten eisige Schneeböen. Der Wind verirrte sich in die Felshöhlen, blies ihren heimlichen Bewohnern Schneekörner ins Gesicht und kroch unter ihre Kleider. Wenn sie morgens aufwachten, bedeckten Raureif und Frost ihre Haare und ihre Kleider waren steif gefroren. Bald blieben ein paar Kinder auch einfach liegen, mit blutleeren Lippen und weißen Wimpern.
    Alasar sah ein, dass sie die Höhlen besser beheizen mussten. Jede Nacht wurden in der großen Schlafhalle zehn Lagerfeuer entzündet. Das Brennholz schwand dahin, ohne dass Alasar etwas dagegen hätte tun können. Die Kinder hofften inständig, dass der Winter früh endete und sie nicht eines Tages zugeschneit ohne Feuerholz erwachen würden.
    Im Winter brachten die drei schwangeren Frauen ihre Kinder zur Welt. Die Großmütter halfen bei den Geburten und taten, was sie konnten, aber Hunger und Kälte waren ihnen zuvorgekommen. Zwei Säuglinge kamen tot zur Welt. Die entkräfteten Mütter folgten ihren Kindern bald. Nur eine Mutter

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