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Das Drachentor

Titel: Das Drachentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Augen. Ihm war doch nicht schwindelig …
    Immer mehr Lichter tanzten vor ihm her, aber sie sahen nicht real aus. Revyn blinzelte. Als das merkwürdige Funkeln nicht verschwand, folgte er ihm mit dem Blick und sah, wo es herkam. Ihm stockte der Atem.
    Der sterbende Drache vor ihm - löste sich auf. Sein blutüberströmter Körper wurde immer durchscheinender. Schillernder Staub stieg empor.
    Revyn öffnete den Mund, aber er brachte keinen Ton heraus. Er konnte sich nicht bewegen. Der Drache war kaum mehr sichtbar, nur die Lanze war noch da. Die Staubwolken sammelten sich zu träge rotierenden Säulen und verglommen allmählich.
    Ein plötzlicher Luftzug wirbelte auf Revyn herab. Er kniff die Augen zusammen. Lichtsplitter regneten auf ihn nieder, trafen auf die Erde und stoben nach allen Seiten. Ein kreischender Windreiter stürzte direkt aus dem Himmel und schlug neben Revyn auf den Boden.
    Die winzigen Teilchen umschwirrten Revyn. Als er sich umsah, verschwamm seine Umgebung im Dunst der unwirklichen Funken. Überall strömten Säulen aus Licht in die Schlacht herab, als greife der Himmel mit Fingern nach der Welt. Wabernde Wolkenschlieren erhoben sich aus dem Gemetzel. Die Erde krachte.
    Dann rissen unsichtbare Tore auf und der Ruf der Unwirklichkeit erklang.

Die Rache
    Als das Wunder geschah, trat Ardhes aus ihrem Zelt. Hätte ihr jemand von dem erzählt, was sich nun zutrug, sie hätte es nicht geglaubt. Ein Albtraum war über die Welt gekommen. Was einst die Realität gewesen war, entsprang jetzt der dämonischen Fantasie von Teufeln.
    Der dämmrige Himmel spiegelte ein rotes Licht wider, das von nirgendwo herkam. Alles war in dieses Licht getaucht, grässlich rot - lila - ockerfarben - nein, eine Farbe, die es nie gegeben hatte! Schleier des Wahnsinns hatten sich über die Erde gelegt.
    Und vom Himmel regneten Leichen.
    Die Drachen, die in der Luft gekämpft hatten, sanken herunter, leblos wie Steine. Sie zogen leuchtende Schweife hinter sich her, gleich Sternschnuppen, während ihre Körper sich in nichts auflösten. Die hilflosen Windreiter schlugen kreischend auf der Erde auf. Über das ganze Schlachtfeld hinweg glommen Fahnen silbrigen Staubes auf, und Männer fielen, als hätten die Wolken sie erbrochen. Aus dem Getümmel am Boden strömten Lichtkörner empor wie Nebelschleier. Ein Schrei erfüllte die Welt, der kein echter Schrei war.
    Wie ein Klirren, das ein Geisteskranker in den Ohren hatte, war der Klang plötzlich für alle hörbar geworden - und war doch nur ein entsetzlicher Gedanke im Kopf jedes Einzelnen. Er war zu hoch, zu grell, um ertragen zu werden. Ardhes krümmte sich. Als sie hinunterblickte, zerrann der Boden vor ihren Augen wie schwarze Lava. Was nun geschah, hätte nie geschehen dürfen. Was geschah, konnte nicht geschehen. Die Panik ließ ihr Herz so schnell pochen, dass sie meinte sterben zu müssen. Und jetzt erinnerte sie sich. Was hatte Octaris damals gesagt, über die Ebenen der Wirklichkeit?
    »Wenn jemand stirbt, entweicht die Seele«, murmelte Ardhes.
    »Die Tore der Welten öffnen sich, vom Diesseits bis zum Jenseits und für alle Ebenen dazwischen - und wenn viele Seelen ihre Körper verlassen, alle auf einmal … dann sind die Tore der Welten weit offen, zu allen Ebenen!« Ardhes blickte zum Himmel auf und presste sich die Hände auf die Ohren.
    Sie begriff, dass sie nach keinem Tor Ausschau halten musste. Sie befanden sich in dem Tor. Der Himmel zerrann in Wasserfällen aus glitzerndem Blut, während die Drachen die Welt verließen.
     
    »Palagrin!« Revyn brüllte seinen Namen immer wieder gegen den Ruf der Unwirklichkeit an. Sein Hals brannte vor Heiserkeit. Krieger, unter denen die Drachen einfach weggeschmolzen waren, klatschten auf den Boden auf. Revyn rannte an ihnen vorbei. Sein Blick irrte durch das Grauen, und doch hatte er das Gefühl, gar nichts mehr zu sehen. »Palagrin!«
    Er stolperte über Leichen. Rauschende Wogen von Licht wehten über ihn hinweg und umhüllten ihn wie Sandstürme. Er spürte einen Sog, der ihn entzweireißen wollte - jeder Atemzug fiel ihm schwer und er rang keuchend nach Luft. Schwerfällig taumelte er vorwärts. »Palagrin!«
    Plötzlich entdeckte er Meister Morok. Der Händler stand wie eine Statue da, den Blick gen Himmel gerichtet. In seinen starren Augen spiegelte sich der Glanz der irrealen Lichter. Mit einem unendlichen Kraftaufwand hob Revyn sein Schwert und tapste auf ihn zu. Ihm war, als drängte er gegen einen Wasserstrom an.

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