Das Drachentor
Antworten suchte, umso haarsträubender wurden die Geschichten. Zauberei, finstere Götter, Elfen - sie alle schienen etwas mit dem Verschwinden der Drachen zu tun zu haben. Und immer wieder stieß Revyn auf eine Elfe. Eine düstere Fee wandelte in den Wäldern umher, hieß es. Eine Diebin schlich durch die Nächte. Ein Geistermädchen.
Doch keines der Gerüchte lieferte Revyn eine Antwort. Fast jeder hatte eine Erklärung parat, und niemand wusste wirklich, was mit den Drachen geschah.
Eines Abends blieb Revyn mit Lilib alleine in den Ställen zurück, als alle anderen sich schon zum Abendessen verabschiedet hatten. Revyn ging nun fast immer als Letzter, denn stets gab es noch etwas zu tun - einen Drachen besuchen, zum Beispiel, den er über den Tag nicht gesehen hatte. Über das Verschwinden vor einem Monat sprach bei den Zähmern niemand mehr. Und auch Revyn erwähnte es nicht, obwohl er sich den Kopf darüber zerbrach, was Wedym vielleicht wusste.
»Wieso verrätst du es nicht?«, fragte Lilib ihn plötzlich, als sie gerade dabei waren, verknotete Seile zu lösen und aufzurollen.
»Was denn?«, fragte Revyn. In den letzten Wochen war Lilib ihm eine gute Freundin geworden. Er mochte ihre nachdenkliche Art und ihr raues, offenes Lachen.
»Deine Methode«, sagte sie leise. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, als sie einen besonders festen Knoten mit den Händen bearbeitete. »Du hast immer noch nicht verraten, wie du die Drachen dazu bringst, dir zu vertrauen.«
Revyn hielt in seiner Arbeit inne. »Aber ich habe keine Methode, wirklich.«
»Du könntest die alte Art des Zähmens stoppen. Die Drachen sind dir doch wichtig - wenn du verrätst, wie man sich ihnen ohne Gewalt nähert, muss niemand sie mehr festbinden und bis zur Erschöpfung quälen, um sie zu zähmen. Denk darüber nach, Revyn.«
»Ich weiß wirklich nicht, wieso die Drachen mich dulden«, sagte Revyn mit Nachdruck. Dass Lilib glaubte, er wolle aus Stolz nicht verraten, wie man das Leid der Drachen beenden könnte, kränkte ihn. Aber sie blickte noch immer nicht auf.
»Dann verrate es doch für mich«, fuhr Lilib ruhig fort. »Ich liebe die Drachen, seit ich ein Kind bin. Alles würde ich dafür geben, mit ihnen so vertraut zu sein wie du. So wie du und Palagrin.« Ihre Stimme wurde leiser. »Manchmal habe ich mir gedacht, dass Palagrin es dir beigebracht hat - einer von ihnen zu sein. Er hat doch einen elfischen Namen … Vielleicht ist er ein verzauberter Drache vom Elfenvolk und … - tut mir leid, ich rede dummes Zeug. Es geht mich nichts an.«
Revyn beobachtete sie eine Weile schweigend bei der Arbeit, dann seufzte er. Egal was er sagte, sie würde ihm nie glauben, dass es keine Erklärung für seine Verbindung mit den Drachen gab. Lilib glaubte nur an Dinge, die verstanden werden konnten.
»Alles, woran ich denke, wenn ich zu einem wilden Drachen trete, ist, wie ihm zumute sein muss«, sagte er schließlich. »Ich fühle die Verzweiflung in ihm - nein, keine Verzweiflung, etwas noch Tieferes. Es ist ein schrecklicher Kummer … Könnte ich dir beibringen, ihn zu fühlen, würde ich es nicht tun. Niemand auf der Welt sollte so empfinden. Die Drachen wurden ihrer Heimat entrissen. Ihrer Welt. Sie verlieren ihre Freiheit. Plötzlich müssen sie sich einem Reiter beugen, und dieses Gefühl, verstehst du, das ist fast unerträglich! Du sagst, du liebst die Drachen. Dann bist du ihnen näher als irgendjemand sonst.«
Lilib verengte leicht die Augen. Ihr Blick suchte lange und tief in seinem Gesicht. »Was hast du nur erlebt, dass du den Kummer der Drachen verstehst? Wer bist du bloß, Revyn …«
Revyn antwortete nicht. Er fürchtete, ein einziges Wort könne alles verraten.
Königlicher Besuch
Wochen vergingen, ohne dass Revyn sich der Zeit bewusst war. Wie sollte er auch - sein Leben war erfüllt von Arbeit. Frühmorgens ging er zu den Zähmern und kehrte erst abends zurück, dann besuchte er Palagrin, stahl sich mit Capras, Twit und Jurak in die Vergnügungsviertel davon oder schlenderte ganz einfach die halbkreisförmige Stadtmauer entlang.
Mit der Zeit wurden Revyns nächtliche Spaziergänge häufiger, je seltener er mit seinen Freunden unterwegs war. Die Jungen hatten eine neue Leidenschaft: die angeblich magischen Elfenpfeifen, die in Logond als jüngste Entdeckung gefeiert wurden. Seit Kurzem erfüllte ihr süßlicher Rauch die Schänken der Stadt und die Lungen der heimlich ausgebüxten Krieger. Druiden versprachen sich
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