Das dreizehnte Kapitel (German Edition)
Höflichkeit.
Dass wir von der Unmöglichkeit gelebt haben, müssen Sie zugeben. Soll ich jetzt dankbar sein, dass Sie aus der Fülle der Unmöglichkeiten eine herausgesucht und mit Hilfe dieser einen Unmöglichkeit Ernst gemacht haben? Ernst mit dem Unmöglichen. Ernst machen mit dem Unmöglichen heißt aufhören, Schluss machen, Amen.
Mir fehlt dann das Unmögliche. Ich kann nicht leben ohne das Unmögliche, und das sind wir, Sie und ich. Und ich begreife nicht, dass Sie jetzt ohne das Unmögliche leben können.
Und so verabschiedet sich der Schriftsteller von der Theologin:
Wie viel mehr möchte man sein
als man ist und überall immer zugleich
in jedem Wasser fließen
die Hitze sein der Wüste
nachts das Eis
das Tannenwipfelwiegen im Wind
Freundschaftsstifter
Stromableser
Schlüssel-
Wahrer
aller Arzt
und Kranker
aller Ärzte.
Früher stieß
eins ans
andere
jetzt ist Platz
bzw. Leere
herrscht.
6
1. Februar 2011
Lieber Basil Schlupp,
hätte ich’s doch nicht gelesen! Prostratio heißt das in Ihrem Kirchenlatein. Sie sind eben doch ein Katholik! Durch und durch! Das haben Sie intus, das Sich-nieder-Werfen der ganzen Länge nach mit ausgestreckten Armen! Karfreitagsliturgie. Die wir nicht ohne Neid zur Kenntnis nehmen.
Um es gleich zu sagen – und ich komme mir hart, fast böse vor, das so zu sagen –, überzeugt haben Sie mich nicht. Sie haben den Mangel in Ihrem Interview bei allen möglichen Namen genannt, den Verrat kaum vorkommen lassen. Das, was ich als Verrat empfunden habe. Das, was im Interview fehlt, fehlt immer noch. Es ist nicht wiedergutzumachen. Es sei denn, Sie gäben ein krasses Gegen-Interview. Aber dass Sie das nicht können, haben Sie klar genug gesagt.
Zum Glück weiß kein Mensch, wie weit wir, Sie und ich, gekommen waren in der Nähegewinnung. Die würden jetzt grinsen. Aber es gibt sie nicht bzw. nur in meiner Vorstellung. Da Sie mir Ihren Verrat so als Natur-Notwendigkeit geschildert haben, begreife ich, dass dieser Verrat sein musste. Aber eben das, in der andauernden Nähe eines solchen Verrats zu leben, ist mir nicht möglich.
Von weiteren Prostrationen bitte ich abzusehen.
So freundlich wie noch möglich grüßt
Maja Schneilin
7
3. Februar 2011
Verehrte,
Sie haben geantwortet. Was, ist egal. Sie haben geantwortet. Mir. Dem Verräter. Das können Sie sich nicht verzeihen. Ich schon, ich verzeih es Ihnen, dass Sie geantwortet haben. Sie haben gelesen. Dass ich das nicht verdiene, weiß ich so gut wie Sie. Deshalb bin ich ganz überflutet von Dank. Ich spüre jetzt den Tod wie noch nie. Und weil ich mich, weil Sie geantwortet haben, stark fühle wie noch nie, bilde ich mir ein, jetzt sei der Tod willkommen.
Heute Vormittag, als die Nachricht noch nicht eingetroffen war, trieb mich meine Stadtstreicherei bis in Ihre Gegend. Mit der S-Bahn. Eine Gleichaltrige mir gegenüber. Neben ihr eine ganz Junge, die hatte einen Knopf im Ohr, von dem die Leitung zum Gerät führte. Sie kam mir pränatal vor. Wir, die Gleichaltrige und ich, schauten hinaus ins vorbeifliegende Berlin. Weil wir beide so hinausschauten, musste, wer uns sah, glauben, wir seien ein Paar. Die Kapuze ihrer Jacke hatte einen dicken Fellsaum. Kaninchen. Der Kopf der Hinausschauenden war ganz umgeben von einem Fell. Ihre Jacke war offen. An einer weit reichenden Kette aus grünen Steinen hing ein schwarzes Kreuz, in dem etwas funkelte. Während sie zum Fenster hinausschaute, hatte sie beide Hände an diesem Kreuz. Und deshalb dachte ich an Sie, hielt ich diese Frau für eine Botschaft. Töricht zu sagen, diese Frau sei gleichaltrig gewesen. Sie war alterslos. Absolut alterslos. Ihr dunkelgrünes Wollkleid hörte kurz vor ihren Knien auf. Sie hatte hochgeschwungene Augenbrauen. Die Augen darunter fast schräg. Spott, dachte ich. Und nicht Spott über dies oder das, sondern überhaupt. Mühelos, stimmungslos, sozusagen ewig. Haben Sie nicht auch diesen gegenstandslosen Spott im Gesicht? Versuchen Sie nicht, wenn Ihnen das bewusst wird, sanftmütig zu sein? Mit Ihrem Mund zum Beispiel. Dann reichte der Saum der Alterslosen nicht ganz übers Knie. Ich wollte sagen: Deine Knie schreien mich an. Mit Knien ist man per Du. Aber bevor ich das sagen konnte, zog sie den Saum über die Knie. Ich vermied es, gerade noch zu sagen: Richtig. Dann waren wir an der Endstation. Die Pränatale war schon vorher ausgestiegen. Die ich für Ihre Gesandte hielt, stand auf, ging über den Bahnsteig, stieg ein, ich folgte, setzte mich ihr
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