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Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Titel: Das dreizehnte Kapitel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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meiner Existenz. Aber dann sagt sie tröstend: Weil du das Gegenteil eines Eroberers bist, hast du mich erobert.
    Ich komme zurück zu uns. Sie haben in dem Interview meine Gefallsucht gespürt, erkannt, Sie haben daraus geschlossen, dass alles, was ich Ihnen geschrieben habe, ganz unwahr sei, weil es nur von der Sucht, aller Welt zu gefallen, diktiert war. Das hat Sie verletzt. Das musste Sie verletzen. Dass ich meine Gefallsucht Höflichkeit nenne, finden Sie schrecklich. Ich gehe noch weiter: Die meisten meiner Geschlechtsbegegnungen mit Frauen waren Akte der Höflichkeit. Ich habe, wenn ich gefallen wollte, so gut es ging, entsprochen. In einem Roman fand ich entsprechen so ins Englische übersetzt: rise to the occasion. Mehr konnte ich nie wollen. Sie können meine ganze Existenz ein Unternehmen Mimikry nennen. Sie wissen, das ist das Sich-Anverwandeln, um nicht aufzufallen, weil man immer der Schwächere ist. Wenn ich etwas las, was mich gelten ließ, vermied ich es, je wieder einen Blick darauf zu werfen, weil ich Angst hatte, beim zweiten Lesen oder auch nur Hinschauen werde ich auf einen Satz stoßen, der den ersten Leseeindruck als eine Täuschung entlarven würde. Und glauben Sie ja nicht, mein Ihnen-auffallen-Wollen sei etwas anderes als dieses Sich-Anverwandeln. Ich wollte Ihnen auffallen, um nicht vernichtet zu werden durch Nicht-Auffallen, durch Nicht-wahrgenommen-Werden.
    Noch ein Wort zu dem mich ganz entlarvenden Interview. Zum Interview überhaupt. Iris hat das auf ihre Art doch sehr genau gesagt. Aber dazu gehört noch – und das ist durch Ihre Reaktion auf dieses letzte Interview bewiesen –, man antwortet immer mehr, als der Fragende wissen will. Das ist die Naivität des Gefragten. Er ist sozusagen ehrlich wider besseres Wissen. Das Interview ist die Beichte eines sich gottlos dünkenden Zeitalters. Das sage ich Ihnen! Ein Interview ist immer ein Geständnis. Meistens führt es zur Verurteilung. Wie in Ihrem, unserem Fall. Zum Ego te absolvo fühlt sich keiner aufgelegt.
    Ich will, um zu beweisen, dass ich Sie verstanden habe, auch noch sagen, was Ihnen gefehlt hat in Gelegenheit macht Liebe . Und das in der Zeit, in der unser Briefwechsel höhere Temperaturen erreicht hatte. Zumindest anstrebte. Das hätte im Interview sichtbar, spürbar werden müssen. Ich hätte mich positionieren müssen, etwa so: Ein Leben lang war ich der Sklave der Opportunität, jetzt aber, zum ersten Mal, bin ich der Komponist einer jeden Himmel erstürmenden Melodie, meiner durch eine Frau, durch diese Frau geweckten Melodie. Und ich kann nicht anders, als darüber glücklich zu sein. Das haben Sie mit Recht erwartet von mir. Dass ich die alte Leier produziert und auch noch denunziert habe, das hat Sie verletzt, furchtbar verletzt. Sie nennen es Verrat. Also bin ich zurückverwiesen ins Gefängnis namens Routine. Lebenslänglich. Keine Wiederaufnahme des Verfahrens. Adieu.
    Oder soll ich sagen: Das war ein Streifschuss aus der Höhe?
    Ich wische das Blut ab und klebe die Stelle mit Müdigkeit zu.
    Jetzt kann ich mich nur noch beklagen über die Schwäche unserer Sinne. Ich sehe ein, dass ich Sie nicht erkannt habe. Meine Augen, meine Ohren haben noch nie etwas erkannt, und so wenig wie bei Ihnen noch gar nie. Ich habe immer alles für etwas gehalten, was es dann nicht war. Auch mein Gefühl, nichts als eine Täuschungsanlage. Ich habe immer alles falsch empfunden. Nichts war so, wie ich es empfand. Wahrscheinlich auch ich selbst nicht. Auch deshalb habe ich gelernt, nichts sein zu wollen. Alles durch Anpassung zu erreichen.
    Wenn es mir gelingt, mich allem anzupassen, komme ich doch für die, denen ich mich anpasse, in Frage, dann lassen sie mich gelten. Also habe ich Ihnen in völliger Hingerissenheit einen Brief geschrieben, Sie sollten antworten, sonst nichts. Ich habe mir ebenso heftig gewünscht, dass Sie antworten würden, wie dass Sie nicht antworten. Sie haben geantwortet. Ich habe mich hineingeschmiegt in Ihre Sätze, habe Ihnen immer so geantwortet, wie es Ihre Sätze empfohlen, befohlen haben. Ich war betört schon durch Ihren ersten Brief. Hilflos. Untergegangen in einem durch einen Brief geschaffenen Gefühl.
    Ich wollte Ihnen entsprechen, wie noch nie jemand Ihnen entsprochen hat. Dass der, der Ihnen entsprochen hat, nicht ich war, sondern einer, der es Ihnen recht machen wollte, wie es noch keiner geschafft hat, das spielt keine Rolle. Was für mich Not und Notwendigkeit ist, nenne ich dann

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