Das dritte Leben
ob sie noch zwei Einzelzimmer frei haben.«
Renate nickte nur. Nach wenigen Sekunden schon war Hellmut zurück. »Okay«, sagte er, »der Nachtportier ist ein alter Freund von mir. Klappt. Sie haben ein Zimmer.«
»Was heißt, sie haben ein Zimmer?«
»Nur noch eins frei.«
»Dann fahren wir eben zu einem anderen Hotel.«
»Die ganze Stadt ist voll mit Fremden, hat der Portier gesagt. Er hat nur noch dieses eine Zimmer, und sonst ist nirgendwo mehr etwas frei.«
»Und wo wollen Sie schlafen?«
»Werd' schon was finden.«
»Wirklich nur noch ein Einzelzimmer?« fragte Renate.
»Es ist ein Doppelzimmer«, sagte Hellmut kurz. Er stand an der Wagentür, lehnte sich halb zum Fenster rein.
»Ein Doppelzimmer?«
Er nickte, sah sie nicht an. Er öffnete die Wagentür. »Kommen Sie, ich lasse Ihren Koffer nach oben schaffen.«
Sie stand auf dem Bürgersteig. Blickte ihn an. Der Portier kam, nickte ihr zu, nahm ihren Koffer.
»Der geht auch mit«, sagte Renate und wies auf Hellmuts Koffer. Der Portier sah Renate an, dann Hellmut. Schließlich nahm er beide Koffer und trottete ihnen voraus ins Foyer.
»Das geht nicht, Renate«, sagte Hellmut.
»Was geht nicht?« Sie sah ihn voll an. »Ich weiß, daß ich Ihnen vertrauen kann.«
Er grinste. »Ihr Vertrauen ehrt mich, aber ich bin auch nur ein Mann. Verlangen Sie nicht zu viel von mir.«
»Sie haben zwei Tage lang – oder zwei Nächte lang, wenn Sie so wollen – die Gelegenheit nicht ausgenützt. Also: Sie werden sie auch jetzt nicht ausnützen.«
Er griff nach ihrem Arm. »Renate –«
»Ich habe andere Sachen im Kopf«, sagte sie. »Ich glaube kaum, daß ich zu einem Techtelmechtel aufgelegt wäre.«
Hellmut ließ ihren Arm los. Schweigend fuhren sie im Lift nach oben.
An die Tatsache, daß sie in dieser Nacht zum ersten Mal in ihrem Leben ein Zimmer mit einem Mann, einem fremden Mann, teilen würde, verschwendete Renate keinen Gedanken.
Komischer Kauz, dachte der Angestellte in der Suchzentrale des Deutschen Roten Kreuzes. Nach über zwanzig Jahren sucht er seine Tochter. Sabine Gertner. Na ja. Er ging hinüber in die Kartei-Abteilung. Buchstabe G. Es war eine Sache von Minuten.
Der Akt ›Sabine Gertner, geboren am 21. März 1944, Mewe, Weichsel‹, war schon am 17. Mai 1947 angelegt worden.
Das Kind Sabine Gertner, in Obhut des polnischen Ehepaars Jan Wolzcek, Danzig, suchte seine deutschen Eltern, Gertner, zuletzt wohnhaft in Köln. Das hatte auf der Erkennungsmarke des Kindes gestanden.
Eine zweite Anfrage war vom 20. April 1948.
Und danach kam gar nichts mehr. Dann hatten die Wolzceks es wohl aufgegeben, nach den deutschen Eltern ihres Pflegekindes zu forschen.
Der Angestellte ging in sein Büro hinüber.
»Fräulein Vorberg! Nehmen Sie doch mal auf. Also: Sehr geehrter Herr Gertner …«
Er diktierte den Brief.
»Geben Sie den per Expreß auf, vielleicht bekommen die Leute ihn dann noch vor Neujahr. Zwar komische Eltern, nach zwanzig Jahren fällt es denen ein, nach ihrem Kind zu suchen. Und dabei ist alles bei uns in der Kartei. Na ja. Jeder ist eben anders.«
Der Brief kam einen Tag später in München an. Hilde öffnete ihn. Sie hielt den Atem an. Sie hatte von der Anfrage Richards beim Roten Kreuz nichts gewußt.
Sabine lebte! Oder: Sie hatte noch gelebt, damals, 1948! Sie war nicht ertrunken.
»Mein Gott!« Hilde schlug die Hände vors Gesicht. Was nun? Sie mußte Richard erreichen.
Sie griff zum Telefon. Ohne ihr zu sagen warum, war Richard Hals über Kopf nach Berlin gereist.
Es klingelte lange und anhaltend in Zimmer 29 des Hotels Berliner Hof unten am Kurfürstendamm.
Dann meldete sich wieder der Portier. »Meine Dame, Herr Gertner ist nicht auf seinem Zimmer. Moment mal –« Genuschel in der Leitung. Dann: »Ich höre gerade, er hat das Haus vor zehn Minuten verlassen.«
Jawohl, er würde es ausrichten. Dringend zu Hause in München anrufen. Ganz dringend.
10
Hoffentlich komme noch noch zurecht, um eine Katastrophe zu verhindern, dachte Richard Gertner zur selben Zeit an diesem Silvesterabend im Taxi, auf dem Weg zur Kantallee.
Gestern hatte er den Anruf dieses jungen Mannes aus irgendeinem Kaff in Niedersachsen erhalten. »Sie müssen nach Berlin kommen, Herr Gertner. Ihre Tochter Sabine – ich meine Renate, sie hat vor, Alexa Berglund aufzusuchen. Ich weiß nicht, ob es richtig ist. Ich mache mir Sorgen.«
»Wer sind Sie?«
Hellmut Hallig erklärte es.
»Bleiben Sie bei Sabine!« drängte Richard den jungen
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