Das dritte Leben
hat, betrogen in meinen schlimmsten Stunden, in meiner schlimmsten Zeit. Betrogen genau zu der Zeit, als ich in Gefangenschaft war.
Der Mann vermißt. Der Mann ist tot. So flüstert der Verführer. Der Mann kommt nicht mehr. Kommt nie mehr …
So hatte sie es ihm erzählt: Wiegand hat immer wieder gesagt, du kommst nicht mehr zurück.
Wann hat er es das erste Mal mit dir getan, und wo? hatte er brutal gefragt.
Ich hatte alle Hoffnung verloren. Ich war so allein. Ich war so einsam ohne dich. Ich glaubte Wiegand. Ich glaubte, daß du tot wärest. Ich wollte es nicht glauben, aber ich war so allein. Er hat mich … Nein, ich habe es nicht gewollt. Beim ersten Mal hat er mich gezwungen.
Du lügst! schrie er sie an.
Beim Leben meiner Söhne, ich lüge nicht.
Blaß bis in die Lippen. Er sah in ihre Augen. Sah die Wahrheit.
Gezwungen hat er dich?
Er hat mich gezwungen. Er hat mich betrunken gemacht, und er hat mir gesagt, du kämest nie mehr wieder.
Und dann?
Danach war mir alles egal. Ja, ich war seine Geliebte, ein halbes Jahr lang, nein, es war ein ganzes Jahr. Ja, ich hatte ein Kind von ihm.
Und dann?
Er hat mich sitzenlassen. In Oldenburg. In Oldenburg auf dem Bahnhof ist er verschwunden.
Berglund krampfte die Hände um das Fensterbrett.
So war das also.
Die Frau, die er geliebt hatte, mehr als sein eigenes Leben war von dem anderen weggeworfen worden wie ein besudeltes Bettuch.
Alexa war schuldig.
Aber die größere Schuld traf Wiegand.
»Es bleibt mir keine andere Wahl«, sagte er laut. »Ich muß ihn zur Rechenschaft ziehen, ganz gleich, was danach geschieht.«
Mit dem Sicherheitsschlüssel öffnete er die unterste Schreibtischschublade. Dort lag die 7.65-Walther-PP, die er noch kein einziges Mal benutzt hatte.
Er nahm sie heraus, blickte auf den tückisch glänzenden Lauf, auf die tödliche Mündung.
13
Das Laboratorium war nur von der winzigen roten Lampe über den Bakterienkulturen an der hinteren Längswand und dem Licht des Mikroskops erhellt, vor dem Wiegand saß.
Mit angehaltenem Atem beobachtete er das Geschehen unter dem scharfen Okular des Elektronenmikroskops.
Da lag das Stück Gewebe, ein winziges Etwas, entnommen aus dem Mastdarm eines Patienten in der St.-Peters-Klinik.
Scharf und deutlich war das wilde Wachstum der Zellen zu erkennen, die tödliche Wucherung. Und genauso deutlich war zu erkennen, wie das Serum, sein Serum, den Zerstörungsprozeß der kranken Zellen aufzuhalten begann.
Mein Gott, gib, daß es gelingt, dachte Wiegand.
Seine Augen saugten sich an der Gewebeprobe fest. Vor seinem Blick geschah das Wunder: die Zerstörung tödlicher Krebszellen durch sein Serum.
Aber es war nur ein winziges Stückchen Gewebe, nur eine winzige Dosis des Wirkstoffes, den er anwandte. Wie würde sich der menschliche Organismus verhalten, wenn er seinen Wirkstoff in größeren Mengen injizierte? Wie würde der Hormonhaushalt reagieren, wie die gesunden Zellen?
Alles unbeantwortete Fragen. Und sie würden auch noch lange unbeantwortet bleiben, denn er stand erst am Anfang seiner Forschungen.
Ich brauche Zeit, noch sehr viel Zeit, dachte Wiegand. Aber diese Zeit habe ich. Ich bin noch keine fünfzig. Ich stehe in den besten Jahren eines Mannes.
Er lächelte vor sich hin, knipste das Licht des Mikroskops aus, saß einen Moment lang im Dunkeln. Sah nur das rote Auge der Leuchte über den Bakterienkulturen.
Langsam verlor sich das Lächeln auf seinem Gesicht. Irgendeine dumme Gedankenverbindung brachte mit einemmal die Erinnerung an das Rot der Flammen zurück, an jenem Abend im Herbst: der Unfall nach der Jagd, der brennende Tankwagen, die Wiederbegegnung mit Hilde Gertner.
Er runzelte die Stirn. Lächerlich, an so etwas zu denken. Gerade jetzt daran zu denken.
Er hatte nichts mehr von Hilde gehört, schon seit mehr als drei Wochen nicht mehr, seit jenem Tag, als sie voller Panik zu ihm gekommen war, um ihm zu erzählen, daß Renate alles wisse.
Aber sie hatte nicht alles gewußt, die Pflegetochter der Gertners. Sie hatte nicht gewußt, daß er ihr Vater war.
Wie gut, daß er Irene an jenem Abend vor der Oper in seiner ersten Verzweiflung nichts von allem gestanden hatte! Wie absurd war seine Idee gewesen, vor sie hinzutreten und ihr zu sagen – ja, was zu sagen?
Ich habe meinen Beruf mißbraucht, um die Frau eines anderen zu verführen? Ich habe eine Patientin unter Alkohol gesetzt, um mit ihr zu schlafen? Ich habe die Frau eines gefangenen Offiziers zu meiner Geliebten
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