Das dritte Leben
Zeitungsstand.
»Hilde?«
»Richard!« Aufatmen, Erlösung in der Stimme.
»Ein frohes neues Jahr!« rief er. »Und gleich die Nachricht, auf die du gewartet hast. Ich habe Sabine wiedergefunden. Sie schläft bei mir, oben im Hotel.«
»Ist – alles in Ordnung?«
»Ja, alles ist in Ordnung!« Richard lachte glücklich. Alles war in Ordnung. Das Leben konnte neu beginnen.
»Richard –« Zögern in Hildes Stimme.
»Ja?«
»Ein Brief ist gekommen.«
»Ein Brief?«
»Vom Roten Kreuz!«
Sein Herz tat einen Stolperschlag.
»Was – was schreiben sie?«
»Sabine, ich meine – unser Kind … Sie ist …« Schluchzen am anderen Ende der Leitung.
»Was ist?« fragte Richard mit erhobener Stimme.
»Sabine ist damals nicht ertrunken.«
Schweigen.
»Richard!«
»Ja.« Er mußte sich räuspern.
»Hast du mich verstanden?«
»Ja, ich habe verstanden.«
Hildes Stimme zitterte. »Sie ist – sie war 1948 noch bei polnischen Pflegeeltern in Danzig. Bei einer Familie Wolzcek, wie es in dem Brief heißt. Sie haben zweimal beim Roten Kreuz angefragt …«
Richard schloß die Augen. Ich habe es geahnt, dachte er. Ich habe geahnt, daß es so kommen mußte.
Und gleichzeitig erfüllte ihn eine Woge des Glücks. Sein Kind, sein eigenes Kind, lebte auch.
»Hilde?«
»Ja?«
»Was sollen wir, was können wir tun? Sabine schläft. Sie will wieder zu uns kommen. Es soll wieder alles so sein wie früher.«
Hilde begann zu weinen. Er konnte es deutlich über die Leitung hören.
»Hilde!«
»Ja, Richard?«
Und entschlossen sagte er: »Ich fliege nach Polen!«
»Ich weiß es nicht«, schluchzte Hilde, »ich weiß nicht mehr, was wir tun sollen. Sabine ist doch dort groß geworden.«
»Ich will wissen, ob sie noch lebt. Ich will wissen, wie es ihr geht. Ich will – alles wissen. Ich kann nicht anders, Hilde.«
»Ja«, flüsterte sie.
»Ich werde Sabine mit dem jungen Mann, diesem Hallig, nach München schicken.«
»Ja.«
»Du wirst ihr nicht sagen, wohin ich gefahren bin.«
»Natürlich nicht.«
Er mußte dumpf husten. Ganz plötzlich. Ein nervöser Husten, der tief unten in der Magengrube einsetzte, der den ganzen Brustkorb erschütterte.
»Du hörst von mir.«
»Ja.«
»Schick mir den Brief des Roten Kreuzes sofort per Eil-Luftpost nach hier.«
»Ja.«
»Sag doch nicht immer ja«, schrie er in den Apparat.
»Richard, was wird werden?«
»Gute Nacht, Hilde.« Und damit hängte er auf. Seine Hände zitterten, als er sich im Foyer eine Zigarette anzündete.
Langsam ging Richard die dunkle Treppe hinauf in den dritten Stock des Hotels. Betrat sein Zimmer.
Sabine schlief fest. Er betrachtete ihr Gesicht. Das ovale schöne Gesicht mit den hohen Backenknochen, den vertrauten Zügen des Kindes, seines Kindes, das doch nicht sein Kind war.
Abrupt drehte er sich um. Legte sich auf die Couch. Starrte zur Decke hoch.
Auch die andere Sabine lebte. Sie lebte in Polen. Gerettet aus den eisigen Fluten der Ostsee.
Soll ich nun dankbar sein, oder soll ich unser Schicksal verfluchen?
Nun habe ich zwei Töchter, dachte er, ehe er einschlief.
Die kahlen Birken im Garten der Berglunds bogen sich unter den Hieben des Schneesturms.
Berglund saß in seinem Arbeitszimmer, unrasiert, mit geröteten Augen.
Er wußte nun alles. Auch das letzte.
Drei Stunden lang hatte Alexa ihm Rede und Antwort stehen müssen. In diesen drei Stunden war ihr gemeinsames Leben zu Asche verbrannt, war alles, was sie je miteinander erlebt hatten, zerstoben vor dem Brand des Hasses, der in ihm von Minute zu Minute gewachsen war.
Er hatte sie über alle intimen Einzelheiten ihres Verhältnisses zu Wiegand befragt, ihren Widerstand mit brutalen Drohungen gebrochen. Er hatte mit masochistischem Vergnügen alles aus ihr herausgepreßt.
Und was nun?
Er hatte sein Leben der Gerechtigkeit gewidmet. Er hatte als Strafverteidiger nur Fälle übernommen, bei denen er von der Unschuld seines Mandanten absolut überzeugt gewesen war. Das war seine Devise: Gerechtigkeit.
Und jetzt wollte er alles über den Haufen werfen. Jetzt wollte er das Gesetz übergehen, das Recht in eigene Hände nehmen und Rache üben. Rache an dem Mann, der vor vierundzwanzig Jahren wie mit einer Zeitbombe sein Leben zerstört hatte, einer Zeitbombe, die an diesem Silvesterabend explodiert war.
Mein ganzes Leben, dachte er. Denn was jetzt kommt, ist kein Leben mehr. Nicht mehr mit diesem Wissen in meinem Kopf. Nicht mehr mit dem Bewußtsein, daß Alexa mich betrogen
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