Das dritte Ohr
Sie.“ Sie ging.
Der Kellner brachte den Sekt und die Rechnung. Astrid prüfte sie, und als ich Geld hervorholte, zahlte sie – ohne ein Trinkgeld zu geben, dessen war ich sicher, weil der Kellner die Münzen recht mürrisch einsteckte.
„Es ist einschließlich Bedienung“, belehrte ihn Astrid, und er verschwand.
Nachdem diese Sache erledigt war, wandte sie sich der nächsten zu.
„Warum wollen Sie sie noch heute abend aufsuchen? Es ist gefährlich, zu dieser Stunde auf der Reeperbahn zu sein. Sie wissen nicht, wie finster es in den Nebenstraßen ist.“
„Ich besorge uns ein Taxi.“
„Sie wird Ihnen für Ihre dreißig Mark eine alberne Komödie vorspielen.“
„Das ist gut möglich“, sagte ich und schaute zu, wie sie, bekümmert über meine offensichtliche Dickköpfigkeit, die Gläser füllte. „Aber Sie haben mir selbst gesagt, daß sie fähig sei, sich in Trance zu versetzen.“
Sie schloß die Augen, leerte ihr Glas und hielt es noch eine Weile an ihre Lippen. Als sie die Augen wieder aufschlug, erblickte ich in ihnen lachende Funken.
„Vielleicht bringt sie uns ihre Tricks bei, dann betätigen wir uns selbst als Wahrsager. Dr. David Bolt und seine Assistentin Astrid. Soll ich ein Trikot tragen?“
„Ich bin überzeugt davon, daß Ihre Beine meine Unfähigkeit wettmachen würden“, sagte ich.
Seit Jahren hatte ich mich keiner Frau so nahe gefühlt wie ihr in diesem Augenblick.
10
Madame Dolores öffnete uns die Haustür in einer schmalen Gasse, die „Im Trichter“ hieß, in einem Stadtviertel, das von den Luftangriffen des Zweiten Weltkrieges verschont geblieben war. Die baufälligen Häuser hier rochen nach Feuchtigkeit und Abwässern. Sie ging uns voraus, auf fetten Beinen mit Krampfadern und geschwollenen Knöcheln, die in ausgetretenen Schuhen steckten. Nachdem sie drei Stockwerke hinaufgekeucht war, erreichte sie ihre Wohnungstür in dem Augenblick, in dem die Treppenbeleuchtung erlosch. Sie drückte auf den Lichtknopf.
„Es brennt nur drei Minuten“, murmelte sie. „Manchmal schaffe ich es nicht rechtzeitig und werde von der Dunkelheit überrumpelt.“
Ihr Name prangte auf einer mit Grünspan überzogenen Kupferplatte. Der obere Teil der Tür war aus Mattglas und mit einem schmiedeeisernen Schutzgitter versehen. Als sie die Tür öffnete, schlug uns der Gestank eines Löwenkäfigs entgegen. Sie knipste das Licht an, schloß die Tür und sicherte sie mit einer Kette.
„Das ist Kasper“, sagte sie. „Er stinkt.“
Ich sah einen großen, räudigen Kater, der sich in die Küche verdrückte. Madame Dolores legte ihren Schal ab.
„Er spritzt um sich, wenn ich Fremde mitbringe. Er haßt sie. Wenn er mich bestrafen will, pißt er in den Brotkorb. Ich hätte ihn sterilisieren sollen, aber dazu ist es zu spät. Er lebt seit vierzehn Jahren bei mir und stinkt auch für vierzehn. Eines Tages werden wir vielleicht zusammen den Gashahn aufdrehen müssen.“
Die kleine Diele war mit Läufern bedeckt, manche hingen an den Wänden. Porzellannippsachen standen auf Tischen und Konsolen. Die oberen Hälften der Türen, die in zwei weitere Zimmer führten, waren ebenfalls aus Glas. Das um die Jahrhundertwende gebaute Haus hatte seine Ausstattung nie geändert.
„Scht!“ Sie verscheuchte den Kater, der sich mit bösen Absichten an uns heranpirschte. „Ich will ihn lieber erst füttern, sonst spritzt er um sich.“ Sie ging in die Küche.
Astrid hielt sich die Nase zu und grinste mich an.
„Wirklich erstaunlich, wieviel Gestank Sie für Ihre dreißig Mark bekommen“, sagte sie mir mit einer Stimme, in die sich Lachen mischte, ins Ohr.
Die Zigeunerin kehrte zurück, ihr Ausdruck war verwandelt. Sie hob die Hände über den Kopf, schnippte mit den Fingern, als schlüge sie unsichtbare Kastagnetten zusammen, und murmelte Beschwörungen. Wir folgten ihr in das Seance-Zimmer voller Orientteppiche; auf einem breiten Diwan lag ein Kirman und auf einem großen Tisch eine herrliche Afghan-Decke. Ein Teil der Wand sprang wie eine mittelalterliche Brustwehr in die Straße vor; vor den Fenstern hin rote Plastikfolie, durch die das Licht der Straßenlaternen hereinsickerte. Außerdem färbte der rote Schimmer der bemalten Birnen in den elektrifizierten wilhelminischen Leuchtern das Zimmer. Ein länglicher Tisch im Hintergrund war mit Heiligenfiguren bedeckt, die einen kitschigen Gipschristus am Kreuz umringten. Gegen die Statuen lehnten sich Reproduktionen biblischer Szenen von El
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