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Das dritte Ohr

Das dritte Ohr

Titel: Das dritte Ohr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Curt Siodmak
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Greco.
    Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, daß der Kater sich ins Zimmer schlich und auf den Diwan sprang.
    „Gruselig“, flüsterte Astrid und schaute sich unbehaglich um.
    Die religiöse Schaustellung zeugte von einem tiefen, primitiven Glauben. Madame Dolores setzte sich hinter einen runden Tisch und zeigte auf zwei gewaltige Rohrstühle mit hohen Lehnen, die aus dem Rahmen fallend, den Tisch flankierten. Ständig die Finger bewegend, atmete sie schwer und schnell, während sie den Kopf in langsamem Rhythmus hin und her wiegte.
    Astrid beobachtete sie gebannt, überzeugt davon, daß die alte Frau eine gut einstudierte Szene aufführte.
    Auch ich beobachtete sie fasziniert und erkannte, daß sie allmählich in echte Trance sank. Ihre ganze Energie verwandelte sich in metapsychologische Strukturen. Sie verriet Rastlosigkeit, während sich ihre Augen fieberhaft und ohne Fokus bewegten. Ich zweifelte nicht daran, daß sie sich wie Kalyanamitra nach Belieben in Trance versetzen konnte. Astrid war wie hypnotisiert, als die Pupillen der Zigeunerin zwischen meinem Gesicht und Astrids hin und her schnellten und jedesmal länger auf Astrids ruhen blieben, bis ihr Starren schließlich nur noch auf das Mädchen gerichtet war. Ihr blasses, aufgedunsenes, wächsernes Gesicht zuckte krampfhaft, als sie den Höhepunkt der Unruhe erreichte; plötzlich jedoch versteinerten sich ihre Züge. Ihr runzliges Gesicht glättete sich und verlieh ihr ein alterloses Aussehen. Sie sprach mit einer Stimme, die tief aus ihrer Brust kam und wie die eines Mannes klang.
    In diesem Augenblick schrie der schwarze Kater und machte einen Buckel, den Schwanz senkrecht in die Luft gestreckt – die stereotype Pose von Hexenkatzen auf einem Walpurgisnachtbesen. Während der ganzen Seance verharrte er in dieser Haltung. Ich war begeistert! Der Kater reagierte genau so, wie es der Fakir vorausgesagt hatte.
    „Leg deine Hände auf den Tisch, die Handflächen mir zugewandt“, befahl Madame Dolores Astrid.
    Astrid sah mich hilfesuchend an, ich nickte. Sie schien verängstigt zu sein, gehorchte jedoch. Die Frau ignorierte die Hände und starrte Astrids Stirn an.
    „Ich kann nicht handlesen“, gestand sie überraschend. „Ich warte auf die Verbindung mit Geistern wie Engeln und Dämonen. Der Ursprung der Vision wurzelt in transzendenten Körpern, die nicht von dieser Welt sind. Die Quelle allen Wissens wird zu dir sprechen.“
    Ich weiß nicht, woher sie diese Formeln hatte – vielleicht waren sie ihr von vorangegangenen Generationen wahrsagender Zigeunerinnen überliefert worden; ich hatte schon viele Seancen mitgemacht und konnte im allgemeinen Gekünsteltheit und Schwindel aufspüren. Aber während ich beobachtete, wie eine alles andere unterdrückende Macht, die in dieser Frau mysteriös aufstieg, die Oberhand gewann, gelangte ich zu der Überzeugung, daß sie einen Trancezustand erreicht hatte, der dem des indischen Fakirs entsprach. Ihre intensive Konzentration glich der Kalyanamitras und nicht der Harrisons. Ich war erregt; ich hatte vielleicht mein Medium gefunden, ein menschliches Reagenz bei meinen Experimenten in Bezug auf die Neurobiologie der Telepathie!
    Ich hoffte nur, daß Astrid sich still verhalten würde, denn eine Trance kann leicht durch Stimmen oder Bewegungen zerstört werden.
    „Du bist zweigeteilt“, sagte die Frau, deren schwarze Pupillen die Augenhöhlen ausfüllten und sich hypnotisch auf Astrid hefteten. „Zwei verschiedene Personen, zwei Seelen bewohnen deinen Leib. Eine hat Gott geschaut, die andere den Teufel. Du weißt nicht, wohin du dich wenden sollst. Du folgst nicht deinem eigenen Willen, sondern du unterwirfst dich den Befehlen eines anderen, eines anderen, der tot ist.“
    Ich sah, daß Astrid zusammenzuckte und ihre Hand zurückzog, aber die Frau bemerkte diese Reaktion nicht und fuhr fort.
    „Eines Toten“, sagte sie mit einer Stimme, die nicht ihre eigene war, „eines Toten, den du noch immer liebst. Du liebst ihn, weil du dich davor schützen willst, andere zu lieben. Manchmal fragst du dich, ob du ihn immer noch liebst und ob du überhaupt fähig bist zu lieben. Du glaubst, du würdest deinen freien Willen verlieren, wenn du bereit wärst, dich zu verlieben – du würdest in eine Abhängigkeit geraten, vor der dir graut.“
    Astrid warf mir einen schnellen Blick zu. Sie war leichenblaß, aber es gelang ihr, schwach zu lächeln, ein Lächeln, in dem sich Verachtung und Ungläubigkeit miteinander

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