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Das dritte Ohr

Das dritte Ohr

Titel: Das dritte Ohr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Curt Siodmak
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vermischten. Aber die Worte der Frau hatten sie zutiefst erschüttert.
    „Du bist ein überaus komplizierter Mensch“, fuhr die Zigeunerin monoton fort. „Du verbirgst deine wahre Persönlichkeit, indem du eine andere annimmst, die dir als Maske gegen den Gott dient, dem du nicht ins Angesicht zu schauen wagst. Du magst dich selbst nicht und suchst bei einem anderen geistige Sicherheit. Du suchst, aber du hast ihn noch nicht gefunden, weil der Tote dir im Weg steht.“
    Astrids Gesicht sah in dem rotgefärbten Licht aufgewühlt aus. Ich befürchtete, daß die Stimme der Zigeunerin einen hypnotischen Effekt auf sie ausübte, der vielleicht Komplikationen verursachte, die ich nicht vorausgesehen hatte.
    „Ich will mir diesen Unsinn nicht anhören“, stieß sie, mir halb zugewandt, zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
    Madame Dolores’ mumienhaftes Gesicht schien vor meinen Augen zu altern. Schweißperlen erschienen auf ihrer Stirn. Ich hatte schon mitangesehen, wie Leute unter Hypnose oder unter Einfluß von Drogen wie LSD von Visionen gequält wurden, die stärker wurden als die Wirklichkeit. Jene gespenstische, fast männliche Stimme wurde akzentuierter, und ich wünschte, ich hätte sie an den Polygraphen angeschlossen, um die Reaktionen ihres vegetativen Nervensystems erkennen zu können.
    „Du spionierst – nicht für eine Regierung, sondern für irgend jemand … irgend jemand … und du weißt nicht genau warum …“
    „Das reicht!“ unterbrach Astrid sie und sprang auf. „Ich habe diesen albernen Quatsch satt!“ Sie bedeckte ihr Gesicht; ihre Schultern bebten. „Ich will ihr nicht länger zuhören.
    Madame Dolores reagierte auf diesen Ausbruch und richtete sich plötzlich steif auf, während ihre Augen in den Höhlen rollten. Sie erstarrte und schlug vornüber auf den Tisch, wobei sie eine der Kerzen umwarf, deren flüssiges Wachs sich über ihre Hand ergoß. Der Kater stieß ein ohrenbetäubendes Geheul aus, erwachte aus seiner starren Haltung und verkroch sich in der Küche. Ich drückte hastig die kleine Flamme aus und hob dann das Gesicht der Zigeunerin in die Höhe. Sie befand sich in einem katatonischen Krampfzustand, die Augen nach innen gekehrt, die Finger zur Faust geballt. Sie hatte aufgehört zu atmen.
    „Wir wollen sie auf den Diwan legen“, befahl ich scharf und schüttelte Astrid aus ihrer Fassungslosigkeit. Wir trugen den starren Körper zu dem teppichbedeckten Diwan, „Öffnen Sie ihre Bluse und massieren Sie ihr Herz. Sie wissen doch, wie man das macht!“
    Mechanisch knöpfte Astrid die Kleidung der Frau auf, während ich das Fenster öffnete, um die kalte Nachtluft ins Zimmer zu lassen. Unten auf der Straße stritten sich die kreischenden Stimmen eines Mannes und einer Frau.
    Ich kehrte zu der Wahrsagerin zurück. Die Überaktivität ihres vegetativen Nervensystems unter psychischer Belastung und die jähe Unterbrechung durch Astrids plötzlichen Ausbruch, hatten einen Schock hervorgerufen. Ich fühlte ihr den Puls, der über hundertvierzig lag, ein physiologisches Anzeichen dafür, daß sie ihren Zustand nicht vortäuschte. Während ich ihr Handgelenk festhielt, wurde ihr Pulsschlag allmählich wieder normal.
    Plötzlich fuhr sie aus ihrem Zustand hoch, als hätte sie gerade ein Mittagsnickerchen gemacht. Sie setzte sich rasch auf, das Blut kehrte unter der Schminke in ihre Wangen zurück, sie schob ihre Hängebrüste gelassen in die Bluse, die sie dann zuknöpfte. Sie hielt nach dem Kater Ausschau und lächelte listig, als sie ihn nirgends entdecken konnte.
    „Ich muß Ihnen was Gutes geboten haben“, stöhnte sie. „Was hab’ ich gesagt?“
    Ihre Augen wanderten von meinem Gesicht zu Astrids, und sie grinste zynisch. „Habe ich Sie erschüttert, meine Kleine?
    Das passiert manchmal. Nur wenige Leute können die Wahrheit ertragen.“
    Sie erhob sich und schwankte einen Augenblick, aber als ich ihr meine Hand als Stütze reichte, fegte sie sie weg.
    „Das Geld“, befahl sie und streckte ihre Krallenhand ohne zu zittern aus, um die zwanzig Mark einzuheimsen, die ich auf den Tisch legte.
    „Ich habe Ihnen ja gesagt, daß ich Sie nicht beschwindeln würde“, sagte sie voller Zufriedenheit über ihre Vorstellung. „Jetzt wissen Sie, daß ich es kann!“
    „Gehen wir“, sagte Astrid und mied meine Augen, als sie zur Tür ging. „Ich muß morgen sehr früh wieder auf den Beinen sein.“
    „Könnten Sie diese Trance für mich wiederholen?“ fragte ich die

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