Das dritte Ohr
epileptischer Anfall aus! Wird sie ihn überstehen? Sollen wir ihr etwas Phenobartital oder Dilantin einspritzen?“
„Sie erwacht daraus genauso mühelos, wie man den Schlaf morgens abschüttelt“, beruhigte ich ihn. Aber Wilhelm blieb skeptisch und besorgt.
„Wissen Sie, sie ist keine Patientin. Wenn ihr irgend etwas zustößt, bin ich dafür verantwortlich!“
„Nemeth ist doch bei ihr“, tröstete ich ihn. „Er würde es uns schon sagen, wenn wir aufhören müßten, oder?“
„Wie lange lassen wir sie noch so weitermachen?“ fragte Wilhelm, der nun schon besorgt wünschte, Madame Dolores würde aus ihrer Trance erwachen.
„Nur noch ein paar Minuten“, antwortete ich. Ich hatte mir folgendes ausgerechnet: Auch wenn der Luftumsatz in den Lungen der Zigeunerin nur fünfzehn Liter in der Minute betrug, also der einer Frau bei leichter Arbeit, und wenn die Verbindung in der ausgeatmeten Luft eine so niedrige Konzentration hätte wie die geringste Spur von Moschus – nämlich bloß 1/400 000 Milligramm pro Liter – würde ich ungefähr zwanzig Mikrogramm der Verbindung sammeln können, falls ich sie dreißig Minuten in ihrem jetzigen Zustand hielt. Zwanzig Mikrogramm genügten für analytische Zwecke.
Fast zwanzig Minuten vergingen. Auf einmal wurde Madame Dolores unruhig. Sie wand sich von Nemeth los, fegte das Hündchen von ihrem Schoß, hob beide Hände zum Gesicht und riß die Maske herunter, die sie zu ersticken schien. Das Hündchen begann zu heulen. Nemeth tastete im Dunkel nach ihr und versuchte sie davon abzuhalten, sich im Stuhl aufzubäumen.
„Soll ich das Licht anknipsen?“ fragte Magnussen. Ich schüttelte den Kopf und beobachtete das Gesicht der Zigeunerin intensiv, das, mit den geschlossenen Augen, seine Form geändert zu haben schien. Die Wangen wirkten eingefallen, und sie öffnete den Mund; eine gespenstische Stimme übertönte im Lautsprecher das Winseln des Hündchens. Das mühsame Atmen akzentuierte ihre Worte, als sie zu sprechen begann. Was sie sagte, ergab für mich keinen Sinn, für Nemeth dagegen offenbar wohl, der vergeblich nach dem Panikknopf tastete.
„Stresemannstraße vierundsiebzig.“ Ihre Stimme war schrill und klang ausländisch. „Vierter Stock, acht Uhr. Ich darf es nicht vergessen. Klopfen Sie viermal.“
Ich sah, daß Nemeth aufstand und sich über die Frau beugte, obwohl er sie nicht sehen konnte.
„Diesmal nennt er sich Helmuth? Bringt er mir eine Nachricht? Soll ich hingehen? Ist es vielleicht eine Falle?“ fuhr die gespenstische Stimme fort.
Nemeth trat von dem Stuhl zurück und wandte sich der Fernsehlinse zu. Er winkte, als wollte er uns bedeuten, daß wir Licht anknipsen sollten. Ich konnte erkennen, daß sein Gesicht gräßlich verzerrt war und seine Augen vergeblich die Dunkelheit zu durchdringen suchten.
„Ich wollte, sie würde aufhören zu reden“, sagte Madame Dolores’ Geist. „Woher weiß sie … ist das Bolts Experiment … eine Falle für mich? Das ist ein Komplott um mich zu schnappen …“
„Verdammt noch mal, schalten Sie doch das Licht ein!“ schrie Nemeth. Er versuchte, zur Tür zu gelangen, irrte sich aber in der Richtung und stolperte über das winselnde Hündchen.
Wilhelm starrte mich bestürzt an, denn er konnte Nemeths Panik nicht begreifen.
„Warum ist er so aufgeregt?“ fragte Magnussen. Ich fühlte Astrids zitternde Hand auf meinem Arm.
„Wer ist Helmuth?“ fragte Madame Dolores’ zweite Stimme. „Stresemannstraße …“
„Aufmachen!“ brüllte Nemeth und schreckte Madame Dolores dadurch aus ihrer Trance auf. Sie drehte sich um und wäre von dem Stuhl gefallen, wenn die Sicherheitsgurte sie nicht davor bewahrt hätten.
Nemeth stieß, immer noch herum tastend, gegen die Wand und hielt sie für die Tür.
Wilhelm schaltete die Scheinwerfer in der Isolierzelle an, und das Bild der zwei Menschen auf dem Monitor wurde scharf. Madame Dolores versuchte vergeblich, ihre Körperfülle wieder auf den Stuhl zu hieven, und ihr Kopf hing herunter.
Hastig öffnete ich die Tür. Astrid stürzte an mir vorbei zu der Zigeunerin und hob sie wieder auf den Stuhl. Der Zwergpudel sauste aus der Isolierzelle. Madame Dolores’ Gesicht war leichenblaß, ihre Augen verdreht, wie ich es in ihrer Wohnung gesehen hatte.
Wilhelm steckte ihr gewaltsam das Mündstück einer Sauerstoffflasche zwischen die Zähne. Nemeth schaute auf sie herab und wandte sich dann mir zu. Wenn er aufgeregt war, dann beherrschte er sich
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