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Das dritte Ohr

Das dritte Ohr

Titel: Das dritte Ohr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Curt Siodmak
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Fotomodells, was Länge und Proportion der spitzzulaufenden Finger anbetraf; die mandelförmigen Nägel hatten die Qualität einer Elfenbeinschnitzerei. Die Linke war gröber, als hätte ein Bildhauer sie nicht ganz vollendet. Als sie mein Interesse an ihren Händen bemerkte, hob sie die Finger vor die Augen.
    „Die Rechte ist in Ordnung, die andere einfach unmöglich.“ Sie rutschte wieder in einen erstaunlich altmodischen Slang ab.
    „Kommen Sie oft hierher?“
    „Ich habe ein paar Erinnerungen.“
    Sie wandte sich brüsk ab und sah aus dem Fenster, um ihre Gefühle in die Gewalt zu bekommen. In ihrem Geist saß nicht ich, sondern Swen mit ihr an einem Tisch. Sie aß nicht mit mir zu Abend, sondern mit ihm.
    Der Turm hatte sich gedreht und die Aussicht verändert. Man sah jetzt Vororte mit gleichförmigen Häusern und Wasserwege, die sich kreuz und quer zu winzigen blauen Seen ausdehnten.
    „Es ist ein gefährlich flaches Land“, erklärte sie. „Vor ein paar Jahren fegte ein Orkan vonder Nordsee sieben Meter hohe Springfluten heran; Springfluten, wie sie noch niemand hier erlebt hat. Die Deiche waren nur zweieinhalb Meter hoch. Ich war ein junges Mädchen und besuchte damals gerade mitmeinem Vater Hamburg – eines der wenigen Male, wo er mich auf eine Reise mitnahm. Da kam das Wasser.“
    Sie richtete ihre großen schwarzen Augen auf meine – und ich wurde ihr Vater, mein Gesicht verwandelte sich in das eines jüngeren Mannes und löste sich wieder in mein eigenes auf. Sie sah wieder mich, nicht ihn.
    „Manchmal redet man von Hölle und Sintflut, aber erst wenn man eine solche Springflut sieht, weiß man, was das bedeutet. Eine Sturmflut gleicht einem Milliardenheer von Chinesen, das über die Grenzen strömt. Es gibt keine Unterbrechung, nicht einmal einen Atemzug lang. Das Wasser fließt und fließt. Hunderttausend Menschen waren ihm tagelang ausgesetzt, Hunderte ertranken, Tausende Stück Vieh kamen um. Keine Straßen, keine Züge, nur Schiffe und Boote. Kein Trinkwasser, kein Strom, kein Gas. Manchmal brannte Gas auf dem Wasser und erhellte die Nacht. Ich erinnere mich an das Brüllen des Sturms, eine Riesenstimme, die dauernd ein Getöse ausstößt, ohne einmal Luft zu schöpfen. Dieses Geräusch machte mich wahnsinnig. Ich verkroch mich im Bett, vergrub meine Ohren unter das Kopfkissen, aber es nützte nichts.
    Wir wohnten in einem Hotel, und ich schaute vom Dach hinab auf das dunkle Wasser, das aufgedunsene Vieh, die auf den Wellen tanzenden Leichen und Trümmer, die wie Flöße nebeneinander dahintrieben, als wollten sie sich gegenseitig retten. Es war einer der Alpträume in meinem Leben, aber zugleich faszinierend, und ich hatte nichts dagegen zu sterben. Meine Angst wich, ich hatte mich mit dem Unvermeidlichen abgefunden.“
    Sie schaute wieder zur Stadt hinunter. Sie dachte nicht an den blonden Mann mit dem eingefallenen Gesicht, sondern an jemanden, den ich schon gesehen hatte. Ein rundes, gerötetes Alltagsgesicht – an Gobel!
    Sie kannte also Gobel! Ich war versucht, seinen Namen zu nennen, zog mich aber in mein allmächtiges Wissen zurück und wartete gespannt ab, ob sie ihn erwähnen würde.
    „Sitzen Sie gewöhnlich an diesem Tisch?“ fragte ich. Gobel verschwand; sie sah wieder mich.
    „Wie kommen Sie darauf?“ erwiderte sie.
    „Sie sind darauf zugesteuert, ohne daß der Kellner Ihnen den Platz anwies.“
    „Ich sollte lieber aufpassen. Sie sind ein scharfer Beobachter“, sagte sie und lächelte.
    Das Essen kam, und sie übernahm die Aufgabe, mich zu bedienen; eine Geste der Vertrautheit.
    „Skǿl!“ Sie hob ihr Glas und sah mir tief in die Augen. „Ich flirte nicht mit Ihnen. Uns Schweden wird beigebracht, den Leuten in die Augen zu sehen, mit denen wir trinken. Es ist ein guter Vorwand für eine Frau, einen Mann anzuschauen.“ Sie sah Swen an.
    „Wer hat Sie zum erstenmal hierher geführt?“ fragte ich. „In diesem Augenblick denken Sie an ihn.“
    Meine Worte schockierten sie, und ich erschien wieder vor ihrem geistigen Auge.
    „Warum haben Sie mich gebeten, heute abend mit Ihnen auszugehen?“
    „Die Arbeit ist beendet, die Psychotomimetica synthetisiert. Ein Grund zum Feiern, finde ich.“
    „Sie sind gar nicht der Typ zum Feiern“, erklärte sie.
    „Was wissen Sie schon von mir?“ fragte ich.
    „Sehr viel“, sagte sie rasch und verbesserte sich dann. „Nein – nur ein bißchen. Vielleicht benutze ich Sie als Ersatz für jemanden, den ich geliebt habe. Sie

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