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Das dritte Ohr

Das dritte Ohr

Titel: Das dritte Ohr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Curt Siodmak
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sehen ihm nicht ähnlich, aber Sie haben manche seiner Bewegungen, seine Wißbegierde, seinen Scharfblick. Geben Sie jemals auf?“
    „Sie vergleichen mich mit Swen“, sagte ich. Sie hatte seinen Namen mir gegenüber nie erwähnt. 232 schien die Eigenschaft zu besitzen, meine Vorsicht zu vermindern. Erschreckt suchte ich nach einer Erklärung.
    „Swen?“
    „Sie haben mich soeben Swen genannt. Sie haben unsere Namen verwechselt.“
    „Habe ich das?“ Ihr stockte der Atem, als hätte sie eine Untreue eingestanden. „Ich habe meinen Schwur, seinen Namen niemals zu erwähnen, gebrochen.“
    Erregt lehnte sie sich zurück und sah auf die Stadt hinab. Ich fing eine kaleidoskopartige Bildfolge auf. Ich sah Swen vermischt mit Bildern aufragender Gebäude und architektonischer Entwürfe, alle mit seinem eingefallenen Gesicht verwachsen.
    „Ich war siebzehn, als ich ihn kennenlernte; er vierzig. Ich lebte fünf Jahre mit ihm zusammen und sah mit an, wie er dahinsiechte. Ich war ein paar Stunden nicht im Krankenhaus, und als ich zurückkehrte, lag er im Sterben. Der Arzt sagte mir, daß er eigentlich vor meiner Rückkehr hätte sterben müssen, daß er aber auf mich gewartet habe, um mich nicht dieses Augenblicks zu berauben.“
    Wenn er während ihrer Abwesenheit gestorben wäre, hätte sie sich bis zum Ende ihrer Tage schuldig gefühlt.
    „Er befahl mir, weiterzuleben – und das tue ich auch, nur um seinen letzten Wunsch zu erfüllen. Er war Architekt und entwarf viele Gebäude in Schweden, England, Frankreich und hier in Hamburg. Dieser Turm war seine Idee – ein wanderndes Auge, das die Welt betrachtet. Er entwarf auch das große Gebäude dort drüben, das noch immer nicht fertig ist. Seine Energie wirkt weiter, als wenn er noch am Leben wäre. Erst wenn es fertig ist, wird er tot sein.“
    „Hängen Sie deshalb so an diesem Turm?“
    „Er wäre jetzt in Ihrem Alter“, sagte sie und musterte mich scharf. Jäher Ärger stieg in mir auf, denn ich fühlte mich in meiner männlichen Eitelkeit verletzt. Ich war nur ein Ersatz für jemanden, dem sie weiter die Treue hielt.
    „Es ist grausam“, sagte sie, denn sie spürte meinen Ärger. „Wie kann ich je einen Mann finden, der dem Bild entspricht, das ich im Kopf habe?“
    „Sie sollten sich nicht von einem Geist tyrannisieren lassen“, erwiderte ich.
    „Wie könnte ich ihn je vergessen? Er hat meine geistige Entwicklung bestimmt“, fuhr sie fort. „Beherrschung und Organisation war die Devise seines Lebens. Er beherrschte sogar noch seinen Tod.“
    Sie hielt den Kellner an und bestellte noch zwei Aquavit. „Ich betäube mich gern“, sagte sie und grinste mich an. Ein sinnlicher Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht, eine grenzenlose Selbstaufgabe, jene implizierte Promiskuität, die ich häufig bei Alkoholikern beobachtet habe. Als der Kellner die beiden Gläser brachte, schaute sie mir in die Augen, während sie nach schwedischer Sitte trank. Wieder dachte sie an Gobel. Sie erwartete ihn.
    Sie betrog mich, spielte mit mir, ohne zu wissen, daß ich sie in allem durchschaute. Welche Auswirkungen würde es auf die Welt haben, wenn jeder 232 benutzte?
    Entweder würden sich die Menschen gegenseitig umbringen, da sie den Ärger und Betrug in den Gedanken der anderen wahrnahmen oder sie mußten ihre Denkprozesse drastisch ändern und ohne Heuchelei leben. Oder mit bisher nie dagewesenem Vorstellungsvermögen Verstandesmasken erfinden. Während ich Astrid beobachtete, spürte ich, daß die Wirkung des 232 nachließ. Des sechsten Sinnes beraubt, der mir die Macht über andere verlieh, vermißte ich die ESP-Wirkung und fühlte mich sofort unsicher. 232 schien einen scharfen Schwellenwert der Konzentration zu haben, denn die Wirkung verminderte sich nicht allmählich, sondern riß ohne vorherige Warnung jäh ab.
    Ich war auf mich selbst gestellt und sehnte mich danach, die entschwundene Macht zu erneuern. Meine Hand umklammerte den Zerstäuber in der Tasche. In diesem Augenblick trat ein Mann an unseren Tisch, ergriff die Lehne des Stuhls neben mir mit beiden Händen und beugte sich vor.
    „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“ fragte er mit leiser Stimme.
    Es war Gobel. Astrid blickte hastig auf, musterte ihn scharf aus zusammengekniffenen Augen, als versuche sie sich zu erinnern, wo sie ihn schon einmal gesehen haben könnte.
    Es war gut geschauspielert. Sie nahm eine Zigarette aus einem schmalen Etui und zündete sie mit einem goldenen Feuerzeug an. Ich hatte sie

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