Das dritte Ohr
schaute auf meine Armbanduhr. Die Wahrnehmung hatte um zwei Minuten nach Mitternacht eingesetzt. Durch die Überdosis 232 schienen die ESP stärker zu werden. Ich wollte diesmal kontrollieren, wie lange seine Wirkung anhielt.
Ich hörte dieselbe Melodie, als ich nach unten ging. Astrid summte sie in ihrem Geist. Sie saß auf einem kleinen Sofa hinter dem Tisch, die Flasche Steinhäger und ein fast randvolles Wasserglas vor sich.
„Ich dachte, Sie wären schlafen gegangen“, sagte sie. „Deshalb habe ich mich nicht gerührt. Ich kann mir ein Lied nicht aus dem Sinn schlagen“, beklagte sie sich. „Es ist, wie wenn eine Grammophonnadel hängenbleibt.“ Langsam drehte sie das Glas auf dem polierten Tisch. „Sehen Sie, keine Reibung.“ Beschwipst fuhr sie mit dem Finger in der Flüssigkeit hin und her.
Ich setzte mich ihr gegenüber und las ihre Gedanken so deutlich, als hätte ich mit ihr geredet.
Ich fühlte ein Aufwallen von Unüberwindlichkeit. 232 könnte genauso süchtig machen wie Heroin. Was brächte es der Menschheit? Wenn jeder die Fähigkeit besäße, Gedanken zu lesen, so würde dem Menschen die Wahrheit aufgezwungen. War 232 ein Segen für die Menschheit? Wenn ja, warum widerstrebte es mir dann so, an seiner künstlichen Herstellung weiterzuarbeiten? Wollte ich der einzige sein, der über seine Macht verfügte und sie auskostete? Hatte es mich bereits korrumpiert?
„Vor ein paar Tagen, als Sie mich nach Hause gebracht haben“, sagte ich, indem ich meine beunruhigenden Gedanken verscheuchte und sie zu späterer Prüfung in einen Winkel meines Bewußtseins verstaute, „sagten Sie mir, Sie würden nach Hause fahren, aber Sie fuhren irgendwo anders hin. Wohin sind Sie zu so später Stunde gefahren?“
Sie schaute mich aus klaren, vom Alkohol ungetrübten Augen an. Trotz des theatralischen schwarzen Augenmake-up sah sie jung und verwundbar aus.
„Ich habe einen Liebhaber“, sagte sie lächelnd, „ein Stück weiter an der Elbchaussee.“
Sie trank einen Schluck aus ihrem Glas, lehnte sich zurück und schloß die Augen.
Ich wußte, daß es nicht stimmte. Ich sah sie davonfahren, als sie sich erinnerte. Dann erschienen zusammenhanglose und kaleidoskopartige Bilder, die ihre Gedanken meinem Bewußtsein vermittelten. Sie fuhr durch eine Gegend an der Elbchaussee, die ich nicht kannte. Dort überquerte sie bei einer kleinen Ausbuchtung die Straße und hielt. Tief unten lag der Hafen mit seinen Schiffen.. Von einem etwas helleren Hintergrund hoben sich die Silhouetten der Schiffsaufbauten, spinnenartigen Krane und schlanken, hohen Schlote ab. Es war ein psychedelischer Traum.
Plötzlich sah ich mich selbst neben ihr im Auto sitzen. Es war ich, aber auch irgendein anderer. Ihr Liebhaber? Er beugte sich vor und küßte sie – oder warich es, der sie küßte? Die kleine Ausbuchtung an der Elbchaussee war der heimliche Garten ihres Verstandes. Sie und Swen hatten zu einer letzten Umarmung dort gehalten, ehe er zum Sterben ins Krankenhaus ging.
Jetzt saß ich ihr wieder gegenüber hier am Tisch in Heinemanns Haus. Ich beugte mich vor und küßte sie. Meine Sinne registrierten sogar die Weichheit ihrer haftenden, schmelzenden Lippen. Ich spürte ihren verzweifelten Griff auf meinen Schultern. Doch während ich dieses Bild im Sinn hatte, sah ich sie mit geschlossenen Augen mir gegenüber sitzen. Sie tastete nach ihrer Handtasche und holte das schmale goldene Zigarettenetui heraus. Als sie es berührte, berührte sie auch meine Hand.
Ich beendete ihren Traum, indem ich sie beim Namen rief. „Astrid!“
Sie schlug sofort die Augen auf.
„Verzeihung, ich bin fast eingenickt“, murmelte sie, zündete sich die Zigarette an und schaute auf die Uhr. „Ich sollte jetzt lieber nach Hause gehen.“
Sie rührte sich nicht, sondern schaute mich forschend an. Sie wollte eine Affäre mit mir haben. Mit mir, oder mit ihrem gespenstischen Liebhaber, der in ihrem heimlichen Garten auf sie wartete? Wieder umarmte sie mich in ihren Gedanken. Sie sah sich selbst im Zimmer oben, ihre Sachen lagen auf dem Boden herum. Sie beugte sich nackt über mich mit ihrem makellosen und schmalhüftigen, elfenbeinfarbigen Körper, so wie sie ihn im Spiegel gesehen hatte. Sie gab sich nicht mir hin, sondern Swen, einem Phantom.
Da entzog sich 232 plötzlich meiner Kontrolle. Ich hörte mich selbst sagen: „Swen ist tot. Warum finden Sie sich nicht mit der Tatsache ab, daß er tot ist?“
Meine Worte hatten einen
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