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Das dritte Ohr

Das dritte Ohr

Titel: Das dritte Ohr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Curt Siodmak
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teilen Sie es ihm mit!“ sagte ich ungehalten, trat aus dem Hotel und winkte einem Taxi, das mich zur Klinik bringen sollte.
    Wilhelm erwartete mich an der Portiersloge. Er hatte etwas dagegen, daß ich in mein Büro ging, obwohl er das nicht aussprach. Er war aufgeregt und sprach in einem fort, um sich, immer noch von Nemeths Tod erschüttert, Luft zu machen. Sein Verstand folgte einer von hohen Mauern gesäumten Einbahnstraße, die keine Spekulationen zuließ. Bauer hatte mir gesagt, daß Wilhelm meine Forschungen bespitzelte, aber sein teutonischer Verstand war nicht für Vermutungen geschaffen. Kubatschew hatte ihn absichtlich nicht eingeweiht.
    Hinterging Kubatschew auch Bauer? Das konnte ich feststellen, wenn ich ihn traf.
    „Was hatte Dr. Nemeth gegen Sie?“ fragte Wilhelm, während wir den grünen Rasen zu den Baracken hin überquerten, in denen die Patienten untergebracht waren. Ich antwortete nicht, und er wechselte das Thema, wobei er seine Befürchtungen unterdrückte.
    „Sie sind nie in den Unterkünften gewesen, in denen wir die schwersten Fälle geistiger Zurückgebliebenheit untergebracht haben. Wir haben eine ganze Anzahl Mongoloiden; Leute mit Down’schem Syndrom, aber die Beziehung zwischen Chromosomenaberrationen, die bei dieser Krankheit immer vorhanden sind, und ihrer geistigen Zurückgebliebenheit ist noch unklar. Eines Tages werden wir dahinterkommen und sie vielleicht auch heilen können. Wir haben Patienten mit Gehirnschädigungen durch Geburtstraumata, Infektionen, Toxine, metabolische Störungen, Neoplasmen und endokrine Insuffizienz, und eine große Anzahl von Patienten mit Amino-Azidurie, vor allem Phenylkatonuriefalle.“
    Er versuchte, Zuflucht im Dozieren zu finden, als wäre ich ein informationshungriger Laie. Einige Insassen spazierten herum. In einer der Unterkünfte schrien sich zwei Frauen mit hysterisch-schrillen Stimmen an. Der Lärm verstummte mit einem Schlag. Wilhelm horchte einen Augenblick.
    „Das Leben hat verschiedene Ebenen und keine davon hat einen besonderen Wert oder Verdienst“, sagte er. Er zog sich in seinen Berufsverstand zurück – ein Schild, der ihn vor der Wirklichkeit schützte wie jene armen, eingesperrten, abgesonderten Menschen, die wir als verrückt bezeichnen. „Wenn wir uns nicht an uns selbst erinnern können, handeln wir völlig mechanisch wie diese zurückgebliebenen Leute, die sich kaum bewußt sind, daß sie leben. Ich weiß nicht, ob es ein Nachteil oder ein Segen ist.“ Er sprach mit sich selbst, mied meinen Blick. Bisher hatte er mir nicht gesagt, warum er mich hatte kommen lassen, aber ich wußte es. Kubatschew hatte Experimente mit Madame Dolores angestellt, und sie befand sich in einem Schockzustand. „Manche können nicht einmal Tag und Nacht unterscheiden. Sie besitzen keinerlei Einsicht, die nur durch Selbsterinnerung möglich ist – dem ersten Schritt zur Selbsterkenntnis, die den meisten Patienten und ganz sicher bei diesen schweren Fällen der Demenz fehlt.“
    Er blieb stehen, und ich wußte, daß er an Madame Dolores dachte und sich überlegte, ob er sie jetzt mir gegenüber erwähnen sollte.
    „Warum haben Sie mich kommen lassen?“ fragte ich und zwang mich, nicht meine ESP-Fähigkeiten zu enthüllen.
    „Kubatschew hat Madame Dolores dazu gebracht, sich in Trance zu versetzen. Er ging dann weg, und ich weiß nicht, wie ich sie wieder aus diesem Zustand herausbekommen kann. Deshalb habe ich Sie gebeten zu kommen.“
    „Das hätten Siemir doch am Telefon sagen können“, sagte ich. „Was erwarten Sie denn von mir?“
    Er zuckte hilflos die Achseln.
    „Sie ist keine Patientin, und ich leite, wie Sie wissen, die Klinik“, sagte er. „Ich bin für sie verantwortlich.“
    Wir traten in eine Baracke, und er öffnete die Türe eines Zimmers mit dem Hauptschlüssel. Schlechte Luft – eine Mischung aus Exkrementen und Medikamenten – drang mir in die Nase. Es war ein quadratischer Raum, dessen eine Wand aus unzerbrechlichem Glas bestand, durch das ich ein Abbild von Dantes Hölle erblickte. Gesichter grinsten mich an, manche so entstellt, als hätte eine Hand weichen Lehm aus der Form gebracht. Einer der Insassen trug einen Sturzhelm, ein anderer hatte eine Puppe mit zerschmettertem Gesicht in der Hand, einer drehte sich unaufhörlich im Kreise, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Ein junger Mann mit geschlossenen Augen hob in regelmäßigem Rhythmus die Hand zur Stirn und ließ sie wieder auf die Knie fallen. Manche

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