Das dritte Ohr
Männer hockten am Boden, einer, der sein Gesicht mit einem zerrissenen Hemd verhüllte, auf einem Tisch. Ein grinsender Idiot strahlte den Abglanz boshafter Intelligenz aus. Wilhelm warf mir einen, schnellen Blick zu, um meine Reaktion auf dieses Inferno zu beobachten. Ich atmete durch den Mund, um diesen säuerlichen Gestank nicht in die Nase zu bekommen.
„Wir müssen da hindurch“, entschuldigte sich Wilhelm. „Wir sind so überbelegt, daß ich für Madame Dolores nur ein Zimmer am Ende dieses Flügels finden konnte.“
„Warum behalten Sie die Leute hier?“ fragte ich. „Wären sie in einer staatlichen Nervenheilanstalt nicht besser aufgehoben?“
„Wir haben sie uns für Studienzwecke von der Heilanstalt ausgeliehen. Wir wissen praktisch nichts über die geistigen Vorgänge in Leuten, die wir als geistesgestört bezeichnen, da sie nicht nach einem Muster denken, das wir als normal festgelegt haben. Betrachten Sie diesen Tänzer da drüben – was sind seine Empfindungen? Ich wollte, ich wüßte es!“
Mich faszinierte die Vorstellung, daß ich, wenn ich ihr Fegefeuer betrat, mich unter sie mischte und ihren verdrehten Gehirnaktivitäten nachzugehen versuchte, vielleicht das erfahren würde, was Wilhelm nicht zu ergründen vermochte. 232 könnte ein ideales Instrument zur Erforschung des Wahnsinns sein; die Verbindung besaß wenigstens eine segensreiche Anwendung.
Wilhelm schloß eine weitere Türe auf, und ich befand mich in einem langen, gekachelten Korridor, in dem Magnussen und Astrid auf mich warteten.
Unsere Blicke begegneten sich. Auch sie war aufgeregt, da sie auf Wilhelms Befehl die Zigeunerin in die Klinik gebracht hatte. Sie fühlte sich für sie verantwortlich. Es war ihr Einfall gewesen, mich kommen zu lassen.
Madame Dolores saß, in einen Umhang gehüllt, auf einem Stuhl. Sie sah mich leer an und erkannte mich nicht. Ihre Lippen bewegten sich unentwegt; auf ihrem Gesicht lag ein kindliches Lächeln. Astrid beobachtete mich wie einen Gesundbeter, der Wunder vollbringen konnte. Magnussen ebenfalls.
„Ich wollte, ich wüßte was sie denkt“, sagte Astrid.
„Fragen Sie einen Lippenleser“, sagte ich. „Was hat Kubatschew mit ihr angestellt?“
„Wir haben mit ihr das gleiche Experiment gemacht wie Sie seinerzeit. Kubatschew stand nur daneben“, sagte Magnussen. „Natürlich war es sein Wunsch gewesen, sie kommen zu lassen. Wir wiederholten genau Ihren Versuch, Dr. Bolt: Grass-Offner-Polygraph. Untersuchung der ausgeatmeten Gase. Sie sank in diese Trance und halluziniert seitdem. Wir wissen nicht, wie wir sie wieder daraus erwecken sollen.“
„Konnte Ihnen denn Kubatschew nicht helfen?“ fragte ich; ich spürte ihren aufgestauten Antagonismus, als wäre ich an ihrer mißlichen Lage schuld.
„Er ging einfach weg. Wir können ihn nicht finden. Er nahm die Ergebnisse des Experiments mit“, sagte Magnussen.
„Ihm war es egal, ob sie aus ihrer Trance erwacht“, sagte Astrid und appellierte an mich, im Glauben, daß ich allmächtig sei. Sie hatte keinen Sinn für Loyalität, weder mir, noch Wilhelm oder irgendeinem anderen, außer vielleicht ihrem toten Liebhaber gegenüber – und sogar diese versuchte sie zu brechen.
Ich betrachtete die alte Frau. Ihre Gedanken hatten nichts mit Wilhelm, Kubatschew oder der Klinik zu tun. Eine Flut von Bildern ging ihr durch den Sinn; von einem Bauernhaus mit Strohdach inmitten arsengrüner Wiesen. Darauf waren Kühe, wie in einem Bilderbuch, rund und glänzend, mit Glocken um den fetten Hälsen und eine junge Hirtin, deren Umrisse sich gegen einen dunklen, geheimnisvollen Tannenwald abzeichneten. Die Kuhglocken läuteten eine Melodie. Das Hirtenmädchen rannte zu dem Haus. Sie rannte und rannte, ohne dem Haus je näher zu kommen, das Gesicht zum blauen, mit Kumuluswolken bedeckten Himmel gewandt, lachend mit im Wind flatternden schwarzen Haaren. Sie bewegte ihre nackten, hübschen Beine, ohne voranzukommen.
„Ich glaube nicht, daß Sie sie stören sollten“, sagte ich.
„Sie stören ?“ fragte Wilhelm. „Wir haben sie bereits durch das Experiment in der Isolierzelle verstört!“
„Lassen Sie sie in ihrem jetzigen Zustand“, sagte ich.
„Ich verstehe Sie nicht“, entgegnete Wilhelm, den aus Verzweiflung geborener Zorn erfüllte. „Warum lächelt sie? Wenn ich das nur wüßte!“
Ich wollte ihm keine Auskunft über ihre Gemütsverfassung geben. Diese alte Frau hatte fast ihr ganzes Leben in Hoffnungslosigkeit verbracht und
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