Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)
Tag, der vor mir lag. Irgendwie fühlte ich mich, als ob mich ein LKW hinter sich hergeschleift hätte. Hätte ich heute in die Schule gemusst, wäre ich wohl zu Hause geblieben – und das machte ich sonst nie. Vom blauen, wolkenlosen Himmel fielen durch das Glasdach morgendliche Strahlen herein. Mit geschlossenen Augen hielt ich das Gesicht in die Sonne, ließ mich von ihr wärmen und döste einen Moment ein. Ich musste wirklich Joan anrufen. Wenn ich nämlich nicht aufpasste, stand sie hier bald auf der Matte, um nach mir zu schauen. Ich sah sie direkt vor mir, wie sie mit ihrem alten Camry vor dem Hotel hielt, einfach hereinspazierte und behauptete, sie sei zufällig gerade in der Nachbarschaft gewesen. Ich lachte leise vor mich hin, bis mir die Rippen zu sehr wehtaten, aber das Lächeln lag mir auch dann noch immer auf den Lippen.
Trotz meiner Übelkeit und Unsicherheit waren die letzten 24 Stunden vermutlich die aufregendsten meines ganzen Lebens gewesen. So etwas hatte ich gebraucht – dass man mich mal aus meinem gemütlichen, sicheren Zuhause rausholte, mich vor neue Herausforderungen stellte. Und in dieser Hinsicht erwartete mich noch so einiges, da war ich mir sicher. Von den Aufzügen her ertönte verräterisches Rascheln. Ich machte die Augen wieder auf. Mit entschlossenen, energischen Bewegungen stolzierte Aurelia mit Stöckelschuhen und einem eleganten, ärmellosen schwarzen Wickelkleid auf mich zu. Ich stand auf, legte die Hände hinter dem Rücken zusammen und versuchte, wie die perfekte Mitarbeiterin auszusehen.
»Guten Morgen, Miss … Aurelia«, verbesserte ich mich schnell.
»Ja, es ist wirklich ein guter Morgen, nicht wahr, Haven?«, meinte sie, als sie herankam. Ein kaum wahrnehmbares Lächeln umspielte ihre Lippen. Die Locken fielen ihr sanft über die Schultern, und ihre strahlend blauen Augen funkelten, als wollten sie mir sagen, wie sehr sie sich schon darauf freute, mich heute in die Mangel zu nehmen. »Wir haben so viel vor. Ich kann doch davon ausgehen, dass du gefrühstückt hast und startklar bist?«
Beim bloßen Gedanken an etwas zu essen begann mein Magen zu rebellieren. Fester Nahrung fühlte ich mich wirklich noch nicht gewachsen. Wenn ich Hunger und mehr Zeit gehabt hätte, wäre ich wohl in der Küche neben dem Parlor auf Erkundungstour gegangen. Gestern hatte man uns schließlich versichert, dass wir dort essen konnten, wann immer uns danach war. Ganz hinten stand neben dem Kühlraum für Fleisch ein Arbeitstisch, an dem wir außer Sichtweite der Gäste waren. Im anderen Lokal, dem Capone – dem exklusiveren Restaurant des Hauses – waren wir hingegen nicht willkommen. Dort würde es in der Küche stressig und hektisch zugehen, und Aurelia hatte uns klargemacht, dass wir stören würden, wenn wir auch nur in die Nähe des Ladens kamen.
»Ich, äh, danke, ich bin bereit.«
»Sehr schön, dann komm doch bitte mit in mein Büro. Da habe ich Material für dich.«
Sie war bereits losmarschiert, also stolperte ich hinterher.
»Danke«, murmelte ich schüchtern, und dann fiel es mir wieder ein. »Oh, hm, wo wir gerade von Material sprechen, Sie haben nicht zufällig ein Notizbuch für mich in der Bibliothek hinterlegt, oder?«
»Hast du etwa jetzt schon etwas verloren, mein Lämmchen?« Sie klang sowohl verärgert als auch verwirrt.
»Nein, ich meinte nur … egal, tut mir leid.« Offensichtlich war das Buch mit den leeren Seiten also nicht von Aurelia. Sie öffnete eine Tür – und zwar dieselbe, in der ich am Vortag sie und Lucian beobachtet hatte.
Auf den ersten Blick sah das Zimmer dahinter eher aus wie das Büro eines grantigen alten Mannes, der Zigarren rauchte und damit prahlte, wie er sich durch die Prohibition gesoffen hatte. Die Wände hatte man mit demselben Kirschholz getäfelt, aus dem die Regale in der Bibliothek waren, und ein Schlachtschiff von einem Schreibtisch dominierte den Raum, ein riesiges, klobiges Möbelstück, für das man vermutlich einen ganzen Wald geopfert hatte. Die Seiten und die Ränder der Tischplatte waren mit eingravierten Ranken verziert, und das Stück sah antik aus, war aber auf Hochglanz poliert. Dahinter zeigte ein Fernsehbildschirm alte und neue Aufnahmen des Hotels in Endlosschleife. Den einzig femininen Touch verliehen dem Raum ein schmales rotes Samtsofa mit goldenen Füßen und Kissen mit Goldruten- und Tigerprint sowie zwei dazu passende, ebenfalls getigerte Sessel.
Aurelia ließ sich hinter dem Schreibtisch nieder, und ich
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