Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)
Bald würde ich wieder gezwungen sein, in den Gang hinabzusteigen und dort unten zu trainieren. Ich betete, dass ich einfach nur laufen und nicht vor jemandem davonlaufen würde. Die Sache mit Beckett war ganz schön knapp gewesen, und ich wollte gar nicht daran denken, was wohl passieren würde, wenn ich bei unserer nächsten Begegnung nicht so schnell ein Schlupfloch fand. Ehrlich gesagt wollte ich dort unten lieber keinem Syndikat-Mitglied begegnen und auch sonst niemandem.
Am Ende des Tages räumten Lance und ich auf und machten uns in der Küche des Parlor ein Sandwich. Ich brauchte jetzt ein bisschen Abwechslung, wollte an irgendetwas anderes denken, egal was, also machte ich ihm bei einem Thema ein bisschen Druck, das er den ganzen Tag noch nicht erwähnt hatte.
»Also … wie ist es gestern Abend eigentlich mit Raphaella gelaufen? Die ist irgendwie so irre schön. Unterwäsche-Model-schön.«
Er zuckte mit den Achseln und biss von seinem Brot ab. »Allerdings.« Er kaute und nahm dann noch einen Bissen, dann kaute er wieder und biss erneut ab. Ich sah ihn an und erwartete eigentlich, dass er das noch näher ausführen würde. Aber da kam nichts weiter, es erklang einzig das mahlende Kaugeräusch. Allerdings? Mehr hatte er dazu nicht zu sagen? Aber ich ließ es ihm durchgehen, wir beendeten unser Abendessen, sagten uns gute Nacht und zogen uns in unser jeweiliges Zimmer zurück.
Sobald ich dort allein war, konnte ich das Unausweichliche nicht länger hinauszögern. Ich zog Jogginghose und T-Shirt an, griff nach der Taschenlampe und öffnete die Schranktür.
Der Weg hinunter war dieses Mal nicht unbedingt einfacher, aber zumindest war ich damit jetzt etwas vertrauter – ich konnte mich auf schmerzende, stechende Finger und das seltsame Gefühl, in völlige Dunkelheit einzutauchen, einstellen. Als meine Füße festen Boden erreichten, gratulierte ich mir zum gelungenen Abstieg.
Das Joggen hätte besser laufen können. Ich war schon nach Minuten – Minuten – außer Atem und musste zehn Meter gehen, bevor ich wieder zu traben anfing, dieses Mal aber so langsam, dass ich mit strammem Marschieren wohl schneller gewesen wäre. Genau deshalb hatte meine bislang rebellischste Tat auch darin bestanden, beim Langstreckenrennen im Sportunterricht einen verstauchten Knöchel vorzutäuschen, weil ich es nicht ertragen konnte, von allen beobachtet und angetrieben als Letzte ins Ziel zu hecheln.
Als ich die Tür des Vorratskellers erreichte, verschnaufte ich nur kurz und rannte dann direkt wieder los. Sobald die vorgeschriebene Stunde verstrichen war, kehrte ich zur Leiter zurück. Ich wollte so schnell wie möglich ins Bett und meinen schmerzenden Muskeln etwas Ruhe gönnen. Wenn es doch bloß zu Beginn des Trainings nach oben gegangen wäre und am Ende nach unten! Aber ich kraxelte hinauf – verharrte auf halber Höhe keuchend, klammerte mich mit jeder Faser meines Körpers fest und schaffte es hoch in den Schrank und in mein halbwegs sicheres Zimmer.
Die Tage verstrichen nun rasch. Lance und ich waren mit dem Wandbild fertig – das gar nicht schlecht aussah – und erledigten jetzt alle möglichen kleineren Tätigkeiten: Wir richteten hier und da Zimmer ein, packten das Goldrandporzellan fürs Capone-Restaurant aus, schüttelten Kissen mit LH -Insignien auf und übernahmen noch zahlreiche andere, wenig glanzvolle Aufgaben. Lucian hatte ich schon seit Tagen nicht mehr zu Gesicht bekommen, und auch Aurelia sah ich immer nur für ein paar Minuten, wenn sie mir neue Anweisungen erteilte.
Dante führte immer noch ein Leben wie ein Vampir. Er fing nachmittags an zu arbeiten, feilte mit Etan am Menü für die Gala und fütterte dann bis spät in die Nacht die Gäste im Tresor. Danach schlief er die meiste Zeit des Tages. Wir waren wirklich wie zwei Schiffe, die sich nachts kreuzten – oder vielmehr morgens, wenn er nach der Arbeit im Club zurückkam und ich auf dem Weg zu Aurelia war, um neue Instruktionen entgegenzunehmen. Das nächtliche Joggen machte mich fertig, aber ich blieb dabei und freute mich, wenn ich ein paar Sekunden schneller war als beim letzten Mal oder morgens aufwachte und nicht mehr ganz so schlimmen Muskelkater hatte.
Am Freitagnachmittag vor der großen Eröffnungsgala hatte man uns alle in der Bibliothek zu einem Mitarbeitertreffen zusammengerufen. Dazu sollten wir, quasi als Generalprobe, die neuen, extra vom Hotel angefertigten Uniformen anziehen. Davon hatte jeder sieben Stück und konnte
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