Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)
konnte, ohne Aufmerksamkeit zu erregen oder irgendjemanden aufzuscheuchen. Ich musste da einfach raus. Vermutlich war meine Reaktion übertrieben, aber ich wollte gerne von meinem vertrauten Zimmer aus überreagieren, nicht in der Nähe eines Typen, der mich wahrscheinlich im Gang einer Drogerie umgerannt und danach eine Frau überfallen hatte. Aber als ich meine Unterkunft endlich erreichte, fühlte ich mich dort furchtbar allein, und ich wusste auch nicht, ob ich nach alldem wohl einschlafen konnte. Dann fiel es mir wieder ein: Die Entscheidung, ob ich jetzt die Augen zumachen konnte oder nicht, lag ja gar nicht in meiner Hand. Langsam begann dieses Buch wirklich zu nerven. Ich kuschelte mich damit an die Wand und blätterte die vertrauten Seiten um, eine nach der anderen. Und da war es, wie erwartet, das heutige Datum und ein neuer Eintrag.
Nach den Anstrengungen der letzten Nacht bist du erschöpft. Ruh dich aus, Himmelsbotin. Aber richte dich nicht zu gemütlich ein, für das, was dich nun erwartet, brauchst du all deine Kraft.
Morgen wird dein Training erst richtig beginnen. Steig am Abend in den Gang hinunter, den du entdeckt hast, und lauf vom Beginn am Fuße der Leiter bis zum entferntesten Punkt –
Ich ging in Gedanken den Weg durch, stellte mir die Kneipe mit der Musik und den Lagerraum vor – der war also die Ziellinie.
Und dann joggst du wieder zurück. Trainier eine Stunde lang so hart du kannst, und zwar jeden zweiten Tag, bis du neue Anweisungen erhältst.
Ich wusste nicht so genau, wie schnell ich laufen konnte, außerdem konnte ich auch die Entfernung dort unten schlecht abschätzen. Es kam mir aber ziemlich weit vor, und ich war beileibe keine Leichtathletin. So langsam hatte ich den Eindruck, dass das Buch sich über mich lustig machte, weil ich nicht in Form war, und das passte mir gar nicht. Trotzdem las ich weiter.
Auf diesem Training sollte in der nächsten Woche dein Hauptaugenmerk liegen. Ansonsten tu einfach, was man von dir verlangt. Verhalte dich unauffällig und bewahre über mögliche Entdeckungen der nächsten Tage Stillschweigen. Du enthältst entsprechende Anweisungen, wenn es an der Zeit ist, sie zu ergründen.
Wappne dich, denn bald stellt man dich auf eine dir völlig unbekannte Weise auf die Probe.
Ich blätterte weiter, um zu sehen, ob da noch etwas kam, aber nein. Diese kurze Nachricht war noch vager als die vorherige und traf mich mehr als alles, was das Buch mir seit dem furchtbaren ersten Eintrag verkündet hatte. Auf ein furchtbares Ereignis zuzuschlittern und nichts dagegen unternehmen zu können, war für mich das Schlimmste.
Aber heute Abend konnte ich ohnehin nichts mehr tun, also legte ich das Buch auf den Nachttisch. Da bemerkte ich, dass das Licht im Schrank noch an war und ging hinüber, um an der Schnur zu ziehen. Wie eine zerspringende Gitarrensaite kam sie mir geräuschvoll entgegen. Ich holte meine Taschenlampe hervor und stieg die Leiter hinauf. Dann leuchtete ich nach oben, fädelte die Schnur durch das Loch an der Lampe und fixierte sie mit einem vierfachen Knoten, an dem ich versuchsweise ein paarmal zog. Dabei geriet ich ins Wanken und hielt mich an der Decke fest. Zu meinem Erstaunen gab die Platte mit einem ächzenden Laut nach. Augenblicklich bekam ich Bauchschmerzen. Langsam schob ich das komplette dünne Paneel zur Seite und sah in das Loch hinein. Mein Licht erhellte Staubmäuse, Spinnweben und einen engen Gang, der aber groß genug war, um hindurchzukriechen. Keine Ahnung, wohin der wohl führte, aber das musste ich früher oder später mit Sicherheit auch noch ergründen. Doch heute Abend war ich offensichtlich noch mal davongekommen. Also blockierte ich wieder die Schranktür mit dem guten alten Stuhl und kroch ins Bett.
So wie das Buch es befohlen hatte, verhielt ich mich am nächsten Tag möglichst unauffällig und kümmerte mich wieder um das Gemälde, nachdem ich Aurelia die Fotos aus dem Club gezeigt hatte. Sie war zufrieden und erklärte mir, dass Lance die Bilder zur Endlosschleife auf dem Flachbildschirm am Empfang hinzufügen sollte. Dann verkündete sie noch, dass ich auch bei der großen Gala zur Hoteleröffnung fotografieren würde, ein Vertrauensbeweis, der mich stolz machte. Trotzdem durchlebte ich den größten Teil des Tages wie eine Schlafwandlerin. Ich konnte die Furcht nicht abschütteln, hatte einen Kloß im Hals, und in meinen Gedanken zogen dunkle Wolken auf, wenn ich an den immer näher rückenden Abend dachte.
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