Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)
noch – heute Morgen habe ich das Bild noch gesehen, und da war es perfekt.« Ich schüttelte den Kopf. »Das ist ein anderes Foto, es muss ein anderes sein. Ich weiß nicht, was …« Ich brach ab, ging ein paar Schritte weiter, blieb vor meinem eigenen Porträt stehen und sah es an.
Nein!
Da war er, der Zipfel meiner eigenen Narben, er schaute aus dem Ausschnitt des gefürchteten weißen Tops hervor, wie dicke, rosafarbene Finger, die nach dem Betrachter griffen. Mir blieb fast das Herz stehen. Jeder einzelne Besucher, der heute Abend hier hereingekommen war, hatte sie gesehen, diese hässlichen Striemen auf meiner Brust, die ich doch so sorgfältig entfernt hatte, und derentwegen ich sogar in genau diesem Moment an meinem Ausschnitt zog.
»Hey«, rief ich Lance wieder zu. Er starrte mich an. Offensichtlich versuchte er, Haltung zu bewahren, unter der Oberfläche brodelte es bei ihm aber gewaltig. »Komm mal her.«
Er stakste herbei – sein Gesichtsausdruck verkündete jedoch: Du kannst froh sein, wenn ich mir auch nur ein einziges Wort von dem anhöre, was du zu sagen hast .
»Guck dir das an«, befahl ich. Es klang kurz angebunden, beinahe barsch. Ich klopfte unter meinem Bild an die Wand. »Und dann sag mir eins: Glaubst du wirklich, dass ich das hier in der Ausstellung haben wollte?«
Er lehnte sich zu meinem Porträt vor und bemerkte es zunächst nicht – er wusste ja nicht, wonach er Ausschau hielt – aber dann entspannten sich seine Züge, als sein Blick auf die seltsamen Brandzeichen fiel. Er sah mich an, und hinter seiner Brille wurde sein Ausdruck weicher, zeugte von Sympathie und auch Verwirrung.
Ich schaute mich um. Jeder hier in der Galerie achtete im Alkoholdunst nur auf seine eigenen Scherze, und wir standen als Einzige in der Nähe der Fotos. Also trat ich näher an Lance heran, sah zu ihm hoch, nahm all meinen Mut zusammen und zog den Saum meines Ausschnitts ein paar Zentimeter herunter, um ihm genau diese Stelle zu zeigen, ein kleines Stück der entstellenden Narben. Er warf einen kurzen Blick darauf, riss unwillkürlich die Augen auf und schaute dann genauso schnell weg, während ich rasch mein Kleid wieder zurechtzupfte. Wir wandten uns erneut den Fotos zu und sprachen kein Wort. Aber es war mir wichtig gewesen, ihm zu zeigen, dass ich ihn verstand. Und dass ich ganz genau wusste, wie er sich fühlte, weil es mir ebenso erging.
Und jetzt hatte ich Angst.
14
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eine dunkle Seite
I n Gedanken ging ich den letzten Tag noch einmal durch, überlegte, wer seit heute Morgen alles in der Galerie gewesen war und wer Zugang zu meinem Computer hatte. Wer würde denn so etwas tun? Diese Bilder hatten vorhin noch anders ausgesehen. Was war im Verlauf dieser wenigen Stunden passiert? Ich hatte mir jede Aufnahme so gründlich angeschaut und war so stolz gewesen.
Lance und ich standen lange schweigend vor der Fotowand. Ich versuchte immer noch, Ordnung in meine wirren, unzusammenhängenden Gedanken zu bringen, als er sanft, gequält »Tut mir leid« murmelte.
»Mir tut es auch so leid – ich weiß einfach nicht …«
»Jetzt ist ja klar, dass du nichts damit zu tun hast. Das ist schon okay.« Er sah mich endlich an und nickte. »Vielleicht sollten wir die jetzt einfach nicht mehr anstarren. Das ist bestimmt das Beste.«
Ich nickte ebenfalls zustimmend, obwohl ich nicht so nachsichtig war. Langsam ging Lance davon. Ich atmete einmal tief durch, zog an meinem Ausschnitt und marschierte ebenfalls los, bis ich bemerkte, dass mein Mitpraktikant von der hoch aufragenden blonden Schönheit abgefangen wurde. Wie angewurzelt blieb ich stehen, als sie quasi auf ihn zuschoss. Die Uniform saß bei ihr wie angegossen, ihr Haar fiel ihr in flachsfarbenen Wellen auf die Schultern, und sie schien Lance jedes Wort vom Munde abzulesen, während sie diese seidige Haarpracht schüttelte. Er hingegen gab sich cool, was er gar nicht schlecht hinbekam – man kaufte ihm wirklich ab, dass er kaum Interesse an ihr hatte. Dieses eine Mal zappelte und schlackerte er nicht herum wie sonst. Er sah einfach nur so aus, als könnte er jetzt zugreifen oder es sein lassen – sie sich nehmen oder eben nicht. Gut gemacht, Lance. Von dem konnte ich mir wohl eine Scheibe abschneiden.
Das ging mir durch den Kopf, als plötzlich er auf der Bildfläche erschien: Lucian. Mit einem Glas in der Hand stand er direkt hinter Lance und Raphaella, neben dem endlosen Wandbild. Ich wandte den Blick ab und schaute zu
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