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Das dunkelste Blau

Das dunkelste Blau

Titel: Das dunkelste Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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und dazu dezentes Gold an den Ohren und um den Hals. Ihre Schuhe hatten immer Absätze. Ihr Haarschnitt war akkurat und teuer, ihre Augenbrauen sauber gezupft, ihre Haut rein. Man konnte sie sich leicht in komplizierten BHs oder Miedern vorstellen, in seidener Unterwäsche, Strümpfen und Strumpfhaltern. Sie nahmen die Darstellung ihrer selbst ernst. Als ich durch die Straßen ging, fühlte ich ihre diskreten Blicke auf mir; das schulterlange Haar, das beim Schneiden etwas zu lang geblieben war, wurde kritisch gemustert, ebenso wie das Fehlen von Make-up, das zerknitterte Leinen und die flachen, plumpen Sandalen, die ich in San Francisco noch so modisch gefunden hatte. Ich war mir ganz sicher, daß ich Mitleid in ihren Gesichtern erkannte.
    Wissen sie, daß ich Amerikanerin bin? dachte ich. Ist es so auffällig?
    Es war auffällig. Ich erkannte ja auch das amerikanische Paar mittleren Alters aus meilenweiter Entfernung, allein an ihrer Kleidung und der Art, wie sie dastanden. Sie sahen sich eine Auslage mit Pralinen an, und als ich vorbeiging, diskutierten sie darüber, ob sie am nächsten Tag noch einmal kommen und welche kaufen sollten, um sie mitzunehmen.
    »Schmilzt die Schokolade nicht im Flugzeug?« fragte die Frau. Sie hatte breite Hüften und trug eine weite pastellfarbene Bluse, Hosen und Joggingschuhe. Sie stand breitbeinig da.
    »Ach was, Schatz, es ist kalt in zehntausend Metern Höhe. Schmelzen wird sie sicher nicht, aber sie könnte zerdrückt werden. Vielleicht gibt es was anderes in dieser Stadt, was wir mitnehmen können?« Er hatte einen stattlichen Bauch, der noch durch den Gürtel, der ihn in zwei Wülste teilte, betont wurde. Er trug keine Baseballkappe, war aber gut mit einer vorstellbar. Hatte sie wahrscheinlich im Hotel vergessen.
    Sie sahen auf und lächelten breit; eine wehmütige Hoffnung stand in ihren Gesichtern. Ihre Offenheit schmerzte mich; ichbog schnell in eine Seitenstraße ab. Hinter mit hörte ich den Mann sagen, »Entschuldigen Sie, Miss –« Ich sah mich nicht um. Ich fühlte mich wie ein Kind, das von den Eltern vor seinen Freunden bloßgestellt wurde.
    Ich kam am Ende der Straße in der Nähe des Musée des Augustins heraus, einem alten Ziegelbau, der eine Sammlung von Gemälden und Skulpturen beherbergte. Ich sah mich um: Das Paar war mir nicht nachgegangen. Ich schlüpfte hinein.
    Nachdem ich bezahlt hatte, ging ich durch die Tür und in einen Innenhof mit Kreuzgang, einen friedlichen, sonnigen Ort mit von Skulpturen gesäumten Wegen. In der Mitte befand sich ein sorgfältig bepflanzter Garten mit Blumen, Gemüse und Kräutern. Am Rand eines Pfades stand eine lange Reihe steinerner Hunde, die die Schnauzen nach oben reckten, als würden sie fröhlich jaulen. Ich ging durch den ganzen Kreuzgang und schlenderte dann durch den Garten, bewunderte Erdbeersetzlinge, Salatköpfe in regelmäßigen Reihen, Estragon- und Salbeibüschel und drei verschiedene Sorten Minze sowie einen großen Rosmarinbusch. Ich setzte mich, zog meine Jacke aus und ließ die Sonne auf die Schuppenflechte scheinen. Ich schloß die Augen und dachte an nichts.
    Schließlich stand ich wieder auf und ging mir die Kirche ansehen. Es war ein riesiges Gebäude, so groß wie eine Kathedrale, aber die Bänke und auch der Altar waren herausgenommen worden, und Gemälde hingen an allen Wänden. Ich hatte noch nie eine Kirche gesehen, die einfach so als Ausstellungsraum benutzt wurde. Ich stand im Türrahmen und bewunderte den Effekt des großen, leeren Raumes über den Bildern, der sie gleichsam aufsaugte und verschwinden ließ.
    Aus den Augenwinkeln nahm ich ein Leuchten wahr. Es kam von einem Gemälde an der gegenüberliegenden Wand. Ein Lichtstrahl war daraufgefallen, und alles, was ich sehen konnte, war ein Stück Blau. Blinzelnd ging ich darauf zu, und mein Magen zog sich zusammen.
    Es war ein Gemälde von Jesus, der vom Kreuz abgenommen worden war und auf einem Tuch auf dem Boden lag; sein Kopf ruhte im Schoß eines alten Mannes. Über ihm wachten ein jüngerer Mann, eine junge Frau in einem gelben Kleid und in der Mitte die Jungfrau Maria, die einen Mantel trug, und zwar in genau der Farbe, von der ich geträumt hatte. Der Umhang war um ein erstaunliches Gesicht drapiert. Das Gemälde selbst war statisch, ein sorgfältig ausbalanciertes Tableau, auf dem jede Person umsichtig plaziert worden war, jede Kopfneigung und jede Geste war nach ihrem Effekt berechnet. Nur das Gesicht der Jungfrau, der Mittelpunkt des

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