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Das dunkelste Blau

Das dunkelste Blau

Titel: Das dunkelste Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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komisch.«
    Susanne strich den Kimono über ihrem Bauch glatt und seufzte.
    »Du mußt es Jan sagen«, sagte ich. »Das ist das allererste.«
    »Ja, ich weiß. Und du mußt es Rick sagen.«
    »Es sieht so aus, als ob er schon Bescheid weiß.«
    Am nächsten Tag sah ich mir die Aufzeichnungen im Rathaus an. Obwohl Jacobs Großvater mit dem Familienstammbaum gründliche Arbeit geleistet hatte, spürte ich das Verlangen, die Originaldokumente in meinen Händen zu halten: Inzwischen hatte ich Gefallen daran gefunden. Ich saß den ganzen Nachmittag an einem Tisch in einem Besprechungszimmer und sah die sorgfältig aufgezeichneten Listen von Geburten, Todesfällen und Heiraten aus dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert durch. Mir war nicht klar gewesen, wie etabliert die Tourniers in Moutier waren: Es gab Hunderte von ihnen.
    Diese knappen Register waren sehr aufschlußreich: Sie enthielten Informationen über die Größe der Familien, das Alter, in dem man heiratete – meist Anfang Zwanzig –, die Berufe derMänner – sie waren Bauern, Lehrer, Gastwirte und Uhrmacher. Viele Kinder starben im Säuglingsalter. Ich fand eine Susanne Tournier, die zwischen 1751 und 1765 acht Kinder zur Welt brachte, fünf davon starben innerhalb eines Monats nach der Geburt. Sie selbst starb, als sie das letzte gebar. Mir war bei meiner Hebammentätigkeit noch nie eine Mutter oder ein Baby gestorben. Ich hatte Glück gehabt.
    Es gab noch einiges, was mir die Augen öffnete. Viele Fälle von unehelichen Kindern und Inzest waren öffentlich aufgezeichnet worden. So ist das also mit den calvinistischen Prinzipien, dachte ich, aber unter meinem Zynismus war ich doch schockiert, daß die Tatsache, daß Judith Tournier 1796 einen Sohn von ihrem Vater geboren hatte, öffentlich verzeichnet war. Andere Eintragungen gaben einfach bekannt, daß ein Kind illegitim war.
    Es war seltsam, die Namen von damals mit dem Wissen zu sehen, daß sie immer noch in der Familie in Gebrauch waren. Aber unter all den Namen – viele davon, wie es bei den Hugenotten Sitte war, aus dem Alten Testament wie Daniel, Abraham und sogar ein Noah – entdeckte ich zwar viele Hannahs und Susannes, und später Ruth und Anne und Judith, aber keine einzige Isabelle, keine einzige Marie.
    Als ich nach Aufzeichnungen von vor der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts fragte, sagte die zuständige Dame mir, daß ich hierzu die Archive des Bezirkes einsehen müßte, die sich in Berne und Porrentruy befanden. Sie riet mir, vorher anzurufen. Ich schrieb die Namen und Telefonnummern auf und dankte ihr, während ich innerlich grinste: Sie wäre entsetzt über meinen spontanen Ausflug in die Cevennen und über meinen Erfolg trotz allem. Dies hier war ein Land, in dem Glück nichts zu suchen hatte; Ergebnisse erzielte man mit gewissenhaftem Fleiß und sorgfältiger Planung.
    Ich ging zu einem Café in der Nähe, um mir zu überlegen, was ich als nächstes tun würde. Der Kaffee kam auf einem Deckchen; Löffel, Zuckerwürfel und ein Stück Schokolade warenkunstvoll auf der Untertasse angeordnet. Ich sah mir das Arrangement an: Es erinnerte mich an die Register, die ich gerade eingesehen hatte, wohlgeordnete Fakten in sauberer Handschrift. Obwohl sie leichter zu entziffern waren, hatten sie nicht den Charme der sprunghaften französischen Aufzeichnungen. Es war wie mit den Franzosen selber: irritierend, denn sie waren zwar nicht besonders freundlich zu Fremden, aber damit auch interessanter. Man mußte sich mit ihnen mehr anstrengen, aber man bekam dann auch mehr zurück.
    Jacob saß am Klavier, als ich zurückkam, und spielte etwas Langsames, Trauriges. Ich legte mich aufs Sofa und schloß die Augen. Die Musik bestand aus klaren, einfachen Melodien, wie gestochen. Ich mußte an Jean-Paul denken.
    Ich war gerade am Eindösen, als er zum Ende kam. Ich öffnete die Augen und begegnete seinem Blick über dem Klavier.
    »Schubert«, sagte er.
    »Schön.«
    »Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«
    »Eigentlich nicht. Jacob, könntest du ein paar Anrufe für mich machen?«
    »Bien sûr, ma cousine. Und ich habe darüber nachgedacht, was du vielleicht sehen möchtest. Familiensachen. Es gibt da einen Ort, an dem einmal eine Mühle gestanden hat, die den Tourniers gehörte. Und ein Restaurant, jetzt eine italienische Pizzeria, das im neunzehnten Jahrhundert ein Wirtshaus der Tourniers war. Und es gibt einen Bauernhof ungefähr einen Kilometer außerhalb von Moutier, in Richtung Grand Val.

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