Das dunkle Erbe
Clüsserath, hat mir den Fall schon dargelegt. Ich denke nicht, dass ich Ihnen dabei helfen kann.« Marsh schüttelte den Kopf. »Sie sind hier an der falschen Adresse. Anscheinend brauchen Sie einen Namen. Damit kann ich nicht dienen. Außer mit dem, der in diesen Ring eingraviert ist. Reicht Ihnen das nicht?«
Raupach bedeutete Heide, sich wieder neben ihn zu setzen. Er stellte sich Sylvia Feichtner und ihre Zwillinge vor. Es gab einen Zusammenhang, aber ein Motiv? Familienehre? Wollte sie Gottliebs Zugehörigkeit zur SS verheimlichen? Warum hatte sie ihm dann so viel erzählt, was offenbar der Wahrheit entsprach?
»Nein«, sagte er. »Wir brauchen mehr.«
Marsh erhob sich und nahm mit verschränkten Armen vor der Terrassentür Aufstellung. Jetzt hatte er seine Gäste besser im Blick. »Ich habe meinen Vater nie kennengelernt. Wenn ich den Erzählungen über ihn Glauben schenke, hatte er Fehler. Viele Fehler. Wie viele Menschen.«
Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Scheibe. »Mutter spielte keine große Rolle in seinem Leben, die Armee ging ihm über alles. Vater genoss den Krieg, all die Gefahren, die klare Ordnung, die Pflichten und Freiräume. Den Sieg. Und er hatte eine Menge Verhältnisse mit anderen Frauen, obwohl das niemanden etwas angeht.«
Marsh schöpfte Atem. »Ich wurde mir schnell darüber klar, dass ich einen anderen Weg einschlage. Als Weinhändler ist man neutral, ein Mittelsmann, Berater, es geht um Genuss, Lebensart, dafür muss man sich Zeit nehmen. Ich dränge niemandem meine Meinung auf. Ich sorge nur dafür, dass meine Kunden das bekommen, was sie ein wenig glücklicher macht. Es ist ein friedliches Gewerbe.«
Er schlenderte zu einem Schränkchen, auf dem leere Weinflaschen standen, aufgereiht wie Trophäen. Die Etiketten waren vergilbt. »1945 gilt als bester Weinjahrgang seit Menschengedenken, Année de la Victoire, das Jahr des Sieges. Am 1. Mai schneite es damals im Bordelais, tags darauf gab es kräftigen Frost. Das hat die Erntemenge reduziert und zusammen mit anderen Faktoren einen großen, opulenten, lange haltbaren Wein hervorgebracht. Ist das nicht sonderbar? Als habe die Natur nur auf das Ende des Krieges gewartet, um sich von ihrer besten Seite zu zeigen.« Marsh seufzte. »Das Gleiche nehme ich von meinem Vater an.«
Er ging zu dem Glastisch und schob den Ring über die Platte hinweg dem Kommissar zu. »Sie können das Ding behalten. Oder geben Sie es den Nachfahren des Besitzers zurück, spenden Sie es einem Museum, was auch immer. Werfen Sie es weg, wenn es Ihnen gefällt.«
Raupach ließ sich nicht beirren. »Ich stelle die Frage noch einmal: Besitzen Sie weitere Objekte aus der Nazizeit?«
Marsh starrte ihn feindselig an.
Töchter und Söhne, Enkel und Urenkel, dachte Raupach. Wenn er sie nach ihren Vorfahren fragte, schien sich das Muster des Gespräches jedes Mal zu wiederholen. Zuerst wehrten sie sich gegen das Eindringen in ihre Privatsphäre, so wie man ungern ein altes, aus dem Leim gegangenes Fotoalbum hervorkramt. Dann kamen sie ins Reden, wollten all die abgesunkenen, wieder und wieder gewendeten Gedanken mitteilen. Früher oder später, so war Raupachs Erfahrung, gab jeder Mensch einen Teil seiner Geschichte preis. Es war ein Grundbedürfnis, ausatmen, etwas ausscheiden. Einen Abdruck hinterlassen. Doch wenn sie das hinter sich hatten, meinten Töchter und Söhne meistens, jetzt sei es genug, jetzt hätten sie ihrer Pflicht Genüge getan. Dann lenkten sie vom Thema ab. Oder sagten gar nichts mehr.
Marsh schwieg noch immer. Heide und Photini standen auf und begaben sich nach draußen auf die Terrasse, um einen Blick auf den japanischen Garten zu werfen. Dass sie zu so vielen gekommen waren, störte jetzt. Sharon stützte ihr Kinn auf der Faust ab und sah zu Boden.
Raupach startete noch einen Versuch. »Ihre Vergangenheit, Herr Marsh, ist kostbar. Für Sie, aber auch für uns. Im Keller dieser Kölner Villa waren allerlei Objekte versteckt, von unterschiedlichem Wert. Ihr Vater wusste davon, aber was er getan oder unterlassen hat, steht jetzt nicht zur Debatte. Wir müssen herausfinden, welche Bedeutung diese Objekte hatten. Warum jemand dafür drei Morde beging. Heute kam sogar noch ein Todesopfer dazu, der Mann wurde erschossen. Wir wollen das beenden.«
Marsh zeigte auf den Tisch. Raupach begriff nicht.
»Möchten Sie Ihren Kaffee nicht süßen?«, fragte der Weinhändler.
Zwischen den Tassen stand eine Zuckerdose. Sie wich im Dekor von den
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