Das dunkle Erbe
Fenster und blickte in den schiefergrauen Nachmittagshimmel, die Hände in den Hosentaschen. Von hinten sah er aus wie jemand, der im Präsidium arbeitete und gerade Pause machte.
Der Polizeipsychologe überlegte noch einen Augenblick und blätterte in seiner Mitschrift. Er hatte die Vernehmung auf dem Monitor verfolgt.
»Verdrängung? Ich weiß nicht. Sublimation, Kompensation würde man eher sagen.«
»Was heißt das?«, fragte Raupach.
»Lassen wir die Fachbegriffe mal beiseite. Er ist erstaunlich offen. Ich glaube, er sieht dich gar nicht als Polizist.«
»Sondern?«
»Als Beichtvater.«
»So fühle ich mich auch. All diese religiösen Verquastheiten. Dass es solche Leute überhaupt noch gibt.«
»Es werden immer mehr«, sagte Jakub. »Erst in Amerika, und jetzt auch hier.«
»Die neue Frömmigkeit?«
»Na ja, fromm. Ein dehnbarer Begriff. Die entdecken wieder, dass es eine Moral gibt, ethische Prinzipien. Neu ist das nicht. Kommt in regelmäßigen Abständen wieder.«
»Und das Gerede vom Tod? Wiedergeburt? Von der Gemeinschaft aller Verstorbenen?«
»Klingt für mich einfach nur streng katholisch. Genauso wie das, was er über Buße und Bekehrung gesagt hat.« Jakub zuckte die Achseln. »Das ist nicht strafbar.«
»Ich wusste gar nicht, dass du auch Theologe bist.«
»Früher hab ich oft mit Priestern zusammengearbeitet.«
»In deiner Zeit als Streetworker?«
»Da bist du so was wie ein Seelsorger. Mach dich nicht drüber lustig.«
»Läge mir fern.« Raupach nahm eine von Jakubs Zigaretten. Der kleine Raum war bereits so verqualmt, dass die Entlüftung kaum nachkam. Wo gehobelt wird, da fallen Späne, hatte Jakub gesagt, als der Kommissar eingetreten war und husten musste.
»Es kommt mir ja auch plausibel vor. Aber so, wie Schwan darüber redet … so schrecklich konsequent. Kann sich so etwas verselbständigen? Der Gedanke, ein Leben im Falschen geführt zu haben und dann auf Biegen und Brechen auf den Pfad der Tugend zurückzukehren?«
»Das würde bei Schwan ja bedeuten, dass er zwei Morde begangen hat, um mit sich ins Reine zu kommen. Gottgefällig ist das nicht gerade.«
»Töte, was dich belastet«, setzte Raupach hinzu.
»Ein Paradox. Wäre nicht das erste in der Psychologie.« Auch Jakub zündete sich eine Zigarette an und zog ein paarmal, bis sie richtig brannte, froh, dass Raupach das Rauchverbot in öffentlichen Räumen ignorierte.
»Die einzige ihm nahestehende Person, die er außer den drei Frauen erwähnt hat, war seine Mutter. Das finde ich bemerkenswert.«
»Komm mir nicht mit der Geschichte von einer schweren Kindheit.«
»Über Schwans Kindheit wissen wir nichts. Da kann alles Mögliche begraben liegen. In Krisensituationen bricht es hervor. Ist nun mal so.«
»Möchtest du mit ihm ein psychodiagnostisches Gespräch führen?«
»Dafür ist es noch zu früh. Außerdem will er nur mit dir sprechen, das wurde doch deutlich.«
»Vergangenheitsbewältigung. Keine einfache Sache.« Raupach dachte an seine Gespräche mit Felix im Krankenhaus. Da ging es auch oft um früher. Raupach malte ihre gemeinsame Jugend in goldenen Farben, Felix dagegen warf ihm vor, sich alles schönzudenken. Am Abend wollte er seinen Freund wieder besuchen. Daran würde ihn auch Schwan nicht hindern. Es sei denn …
»Glaubst du, er hat Eva von Barth entführt und hält sie irgendwo gefangen?«
»Hab ich wieder verworfen. Nein, so wie er über sie spricht, seine ganze Art. Er müsste uns schon sehr täuschen und sich selbst dazu. So verrückt ist der nicht.«
»Bist du sicher?«
Jakub zögerte. »Ich will mich nicht festlegen. Man kann aus Schuldbewusstsein Verbrechen begehen.«
»Hör auf! Kommt für gewöhnlich nicht zuerst das Verbrechen und dann die Schuld?«
»Wenn Schuldgefühle lang genug an dir nagen, machst du vielleicht etwas vollkommen Irrationales, um sie wieder loszuwerden. Das ist erwiesen.«
»Und wie soll das gehen?«
»Ein Beispiel, rein hypothetisch. Angenommen, Schwans Mutter hatte mehrere Verhältnisse. Und die verschiedenen Männer waren nicht nett zu dem Jungen, aber die Mutter hielt an ihren Beziehungen fest. Irgendwann hat er gemerkt, dass dies alles seiner Mutter noch viel weniger guttut. Dass er aber selber nichts dagegen unternimmt und machtlos ist. Daraus kann sich ein starkes Schuldbewusstsein entwickeln.«
»Das sich später entlädt.«
»Sehr viel später.«
»Er hat nie beteuert, unschuldig zu sein«, ergänzte Raupach.
»Ist mir auch
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