Das dunkle Erbe
Hundertzwanziger-Geschwindigkeitsbegrenzung. Photini schaltete auf Tempomat.
Höttges atmete auf, doch seine Kollegin schien das Interesse an der Straße verloren zu haben. Sie drehte sich zu ihm, als hätten sie irgendwo geparkt und packten gleich die belegten Brote aus.
»Ihr habt also so gut wie nichts über Gesa Simon rausgekriegt. Was seid ihr bloß für Bullen!«
»Spiel dich nicht so auf, Fofó.«
»Ich hab immerhin Eva von Barths halbe Lebensgeschichte erfahren.«
»Kommt drauf an, welche Zeugen man erwischt«, wandte Höttges ein. »Bei Sophie Schwan haben wir niemanden außer einer geschockten Haushaltshilfe. Bei Gesa Simon gibt es gerade mal einen redseligen Rentner. Aber in Marienburg sprudeln die Leute über vor Hintergrundinformationen.«
»Nur kein Neid.«
»Wir haben nicht einen einzigen Augenzeugen. Das ist alles bloß heiße Luft.«
»Und Schwan?«
»Noch mehr heiße Luft.« Höttges winkte ab.
»Hältst du ihn für unschuldig?«
»Hab ich nicht gesagt.«
»Was glaubst du, was Mörder alles erzählen, wenn sie mit dem Rücken zur Wand stehen? Entweder sie gestehen – fein, Akte zu, Deckel drauf! Herr Staatsanwalt, übernehmen Sie.« Photini machte eine Pause und schaute kurz in den Rückspiegel. »Oder es kommt etwas in Gang, jedenfalls bei den etwas Intelligenteren. Die menschliche Phantasie, verstehst du? Sie füllt die Lücken, unwillkürlich oder nach einem Plan, der sich langsam formt. Sucht nach Erklärungen für etwas, was sich ein Mörder vielleicht selbst nicht erklären kann. Und setzt an die Stelle der Lücken und Fragezeichen ein Konstrukt. Mal erscheint es logisch, dann wieder wie wirres Zeug. Ist nicht leicht, daraus schlau zu werden.«
»Meinst du, Schwan ist psychisch gestört?«
»Das wäre einfach. Und es würde seine Schuldfähigkeit mindern.«
»Zum Beispiel, wenn jemand Stimmen hört«, schlug Höttges vor.
»Ein Mörder kann eine Menge Mist im Kopf haben. Die Frage ist, ob er Herr seiner Entscheidungen war, als er die Tat begangen hat. Beeinträchtigung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit heißt das bei den Gutachtern.«
»Muss ich als Kommissar so was überhaupt herausfinden?«
»Raupach legt Wert darauf. Damit nicht so ein Rechtsverdreher daherkommt, die Kerle für ein paar Jahre in die Psychiatrie schwatzt und sie dann ohne weitere Sicherungsverwahrung wieder auf die Menschheit losgelassen werden.«
»Klingt nach Hardliner.«
»Sagen wir’s mal so: Es gibt zwei Sorten Kommissare. Die einen legen den Mördern Handschellen an, übergeben sie dem Apparat und waschen dann ihre Hände in Unschuld. Die anderen wollen den Juristen nicht völlig das Feld überlassen.«
»Aber dafür gibt’s doch die Gewaltenteilung. Die Exekutive, das sind wir, und die Judikative, das sind die Richter und die Anwälte.«
»Hast du schön auswendig gelernt«, sagte Photini und tippte auf ihrem Handy herum. Der Straße schenkte sie weiterhin kaum Beachtung.
»Ist doch so.«
»Es kommt immer drauf an, was wir draus machen. Was du draus machst, KKA Höttges, ganz allein. Das gilt für alles, was du als Polizist tust.«
»Bist du mit dieser Einstellung damals im Archiv gelandet?«, fragte der KKA.
»Um schnippische Antworten bist du ja nicht verlegen.«
Photini fuhr immer noch konstant hundertzwanzig auf der linken Spur. Sie beobachtete die Autoschlange, die sich hinter ihnen gebildet hatte. Ein Kastenwagen blendete auf.
»Was meinst du?« Photini wies auf die Rückbank, wo Blaulicht und Kelle lagen. »Sollen wir den jetzt rausziehen und verknacken?«
»Hab ich mir immer gewünscht, als ich noch kein Bulle war.«
»Ich will ’ne Antwort. Hundertzwanzig ist hier erlaubt. Ist dem da hinten aber egal. Wir fahren ein schwarzes Auto, völlig unverdächtig. Der denkt an nichts Böses.«
»Klarer Fall von Nötigung«, sagte Höttges.
»Nötigung?«
»Das ist doch der korrekte Begriff.«
»Wundert mich nicht bei deiner Nickelbrille«, meinte Photini. »Wo hast du die eigentlich her?«
»Stammt noch von der Bundeswehr. Die kriegt man beim Schießen. Später hab ich richtige Gläser reinmachen lassen.«
»Nutzt nur nicht viel.«
Der Kastenwagen begann, mit Lichthupe hin und her zu pendeln. Die rechte Spur war durch einen leeren Sattelschlepper blockiert, der ebenfalls 120 draufhatte. Der Fahrer verlor wahrscheinlich seinen Job, wenn er nicht rechtzeitig ankam, um eine neue Fuhre zu übernehmen.
Photini ließ sich nicht beeindrucken. »Nötigung wäre, wenn du mir jetzt
Weitere Kostenlose Bücher