Das dunkle Erbe
fuhr Felix fort. »Immer den nächsten Stein den Berg hochwälzen. Das macht einen doch fertig! Wenn ich mir diesen Kerl so vorstelle, Sisyphos … Sein Körper spannt sich an, er versucht, dieses gewaltige Gewicht fortzubewegen. Seine Wange schmiegt sich an den kühlen Fels, die Schulter stemmt sich dagegen, ein Fuß stützt ihn ab.«
»Du beschreibst es ziemlich gut.«
»Wenn du nicht aufpasst, wirst du selber zu einem Stein.«
»Weißt du, Felix, es gibt ja noch den Moment, wo ich auf dem Gipfel des Berges angekommen bin.«
»Der Triumph.«
»Den musst du mir gönnen«, sagte Raupach. »Auch wenn er relativ ist. Meistens erschöpft er sich darin, dass man es zu Ende gebracht und eines dieser schrecklichen Rätsel gelöst hat.« Er setzte sich wieder auf seine Liege. »Danach gehe ich den Berg runter. Ohne Last. Da bin ich stärker als der Stein.«
»Erzähl mir nicht, dass du dabei glücklich bist.«
»Es füllt mich aus.«
»Ein Blinder, der sehen möchte und weiß, dass die Nacht kein Ende hat.« Felix lächelte. So nah waren sie sich noch nie gekommen. »Dein Stein rollt weiter.«
»Und deiner nicht.«
Stille.
»Das ist dir so rausgerutscht, oder?«, fragte Felix.
»Es war eine logische Feststellung.«
»Ist schon in Ordnung, ich kann Sentimentalitäten nicht leiden.«
»Stimmt. Das kannst du nicht.«
Felix nickte und fuhr über die Stelle, wo seine Augenbrauen gewesen waren. Es war gut, dass sich Klemens auf diese Nachtwachen eingelassen hatte. Es bedeutete ihm viel. In den letzten Jahren hatten sie sich immer seltener gesehen. Gut möglich, dass ihre Freundschaft vollständig erkaltet wäre.
»Versprich mir, dass du dich nicht von der Polizei kaputtmachen lässt.«
»Die Polizei kann nichts dafür«, erwiderte Raupach. »Es sind die Täter, mit denen wir zu tun haben. Die machen einen mürbe. Die lassen dich zweifeln.«
»Sagt ein alter Bulle wie du.«
»So alt bin ich nicht. Ich habe gerade mal die Hälfte meiner Dienstzeit hinter mir.«
»Dann mag ich mir gar nicht vorstellen, wie du in zwanzig Jahren aussehen wirst.« Felix lachte und richtete sich auf. »Mensch, Klemens, jetzt ist deine beste Zeit. Okay, du hängst an deinem Beruf, den will ich auch nicht weiter miesmachen. Aber hör endlich auf, allein durch die Gegend zu stolpern. Clarissa wär dir bis ans Ende gefolgt, du hast es vermasselt. Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen. Hak es ab! Such dir was Neues!«
»Klingt kaufmännisch«, meinte Raupach.
»Von mir aus.«
»Zumindest vereinfacht es die Dinge.«
»Ende der Durchsage. Wenn die Medikamente nicht nachlassen, penne ich jetzt bis morgen früh.« Felix rupfte das zusätzliche Kissen nach mehreren Anläufen heraus und legte es neben sich. »Kannst du noch meine Urinflasche ausleeren?«
Raupach nahm die Flasche aus der Halterung, ging ins Badezimmer und goss den Inhalt ins Klo. Dann spülte er den Kunststoffkolben in der Schüssel aus. Es war nicht unangenehmer, als den Müll runterzubringen. Und es verschaffte ihm das Gefühl, kein nutzloser Zuschauer zu sein.
Er ging zurück und befestigte die Urinflasche am Bett, in Griffweite für Felix. Der war wieder eingeschlafen. Als Raupach sich selber hinlegte, dachte er an nichts Bestimmtes mehr. Es reichte für diesen Tag.
Er knipste das Licht aus, streifte die Schuhe ab und zog die Decke über die Beine. Dann spähte er durch die Jalousie nach draußen. Die Nachtschicht traf ein. Der reibungslos funktionierende Ablauf vermittelte Sicherheit.
Kurz darauf kam ein Pfleger herein. Stumm grüßte er den Gast auf der Liege und kontrollierte Felix’ Infusionen. Strich über die Bettdecke. Ging wieder.
Raupach fiel in tiefen Schlaf. Träumte nicht. Bemerkte nicht den lautlosen Alarm seines Handys mitten in der Nacht. Es lag auf dem Fensterbrett und vibrierte, bis es herunterfiel.
Am nächsten Morgen wurde er um sechs Uhr abgelöst. Felix’ Schwester Katja übernahm den Posten am Krankenbett. Sie trug aus Prinzip einen Mundschutz, obwohl Felix meinte, darauf komme es jetzt nicht mehr an. Er wollte das Gesicht seiner Besucher sehen, wenn er sich mit ihnen unterhielt, ein Mundschutz verhinderte das. Die Infektionsgefahr schlug er in den Wind.
Felix schlief immer noch. Raupach verließ das Zimmer durch die aseptische Schleuse. Dabei fühlte er sich wie im Gefängnis. Manchmal musste er Befragungen in einer Vollzugsanstalt vornehmen. Das Prozedere, zu den Zellen zu gelangen, glich den Maßnahmen im Krankenhaus.
Als er die
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