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Das dunkle Erbe

Das dunkle Erbe

Titel: Das dunkle Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Kastura
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weg.
    Raupachs bester Freund litt an Leukämie. Vor drei Wochen war die Krankheit wieder durchgebrochen. Die Behandlung schlug nicht an.
    Der Rückfall war ganz überraschend festgestellt worden, bei einer Kontrolluntersuchung nach der ersten Chemotherapie. Die hatte sich über mehrere Runden hingezogen. Drei Wochen Krankenhaus, manchmal länger. Eine Reihe von Infusionen, gefolgt von Immunschwäche, dem Abwehrtief. Dann zwei Wochen zur Erholung nach Hause. Dann wieder Krankenhaus.
    Ein ganzes Jahr war das so gegangen, Schmerzen nach einem festen Fahrplan. Die Blutbildung wurde unterdrückt und musste sich jedes Mal erholen. Die Nebenwirkungen der Chemotherapie glichen einem Axthieb, der Felix stets aufs Neue niederstreckte. Entzündungen kamen und gingen nach entsprechender Behandlung, im Mundraum, an den Augen, in der Lunge. Eine Tortur.
    Als sie beendet war, hatte sich Felix für ein halbes Jahr im Reich der Gesunden gewähnt. Die Schlacht schien gewonnen, er machte wieder Pläne, dachte sogar daran, ins Berufsleben zurückkehren, für den Anfang halbtags. Seine Firma hatte sich äußerst entgegenkommend verhalten und seine alte Stelle nicht neu besetzt, was alles andere als selbstverständlich gewesen war. Das mochte an seiner Beliebtheit liegen. Er war Projektleiter bei einem internationalen Bankhaus und besaß ein gutes Gespür für die Fähigkeiten seiner Mitarbeiter. Wie viel Freiraum sie brauchten, wo die Grenzen ihrer Belastbarkeit lagen, wann er helfen musste.
    Dann war der Rückfall gekommen, seither hatte sich sein Zustand rapide verschlechtert. Seit einer Woche kämpfte er wieder mit dem Tod. Vielleicht war es seine letzte Schlacht. Es klang dramatisch, und das war es auch.
    Felix wachte auf. »Klemens?«
    »Ja?«
    Sein Geist regte sich wieder. »Worüber wollen wir heute reden?«
    »Schlag etwas vor.« Raupach war nicht gut im Aussuchen von Gesprächsthemen. Es kam ihm so vor, als hakte er eine Liste ab. Dinge, die es nach dreißigjähriger Freundschaft zu klaren gab. Er wollte keine alten Rechnungen aufmachen. Am liebsten erinnerte er sich an die guten Momente. Kleinigkeiten, wie das gemeinsame Ziehen eines Bonsai-Baumes, als sie zwölf waren. Wo bringen wir den Draht an? Haben die Wurzeln genug Wasser? Sollen wir die Zweige schon zurückschneiden?
    »Lass uns über Frauen sprechen.« Felix nahm das Cremetöpfchen und fettete seine Lippen ein. Sie wurden schnell trocken.
    »Frauen?«
    »Warum nicht?«
    Raupach rutschte auf der Liege herum. Felix lag in seinem Krankenhausbett. Wenn das Leben einer anderen Bahn gefolgt wäre, säßen sie sich jetzt in schweren Clubsesseln gegenüber und tränken Rotwein aus Südtirol, den Felix so mochte. Jetzt konnte er kaum mehr etwas schmecken, bedingt durch die Therapie.
    »Mit Clarissa ist es aus, das weißt du ja«, begann Raupach und bedauerte wieder einmal, dass Felix und er sich in den vergangenen Jahren kaum gesehen hatten.
    »Wirklich?«
    »Ist doch lange her. Ich bin drüber weg.«
    »Schlimm, wenn sie einen verlassen«, sagte Felix.
    »Was bleibt ihnen übrig? Besser, als wenn sie bei einem bleiben und es leidend ertragen. Das Leben ist …« Raupach brach ab.
    »Kurz«, vollendete Felix. »Man darf nicht zögern, etwas daraus zu machen.« Er veränderte seine Position und legte sich auf die Seite. Eine langwierige Prozedur, bei der er sich nicht helfen lassen wollte. »Aber ein bisschen was muss man schon aushalten, bevor man die Brocken hinschmeißt.«
    » Sie hat Schluss gemacht. Ich hab nur zugesehen.« Raupach machte eine Pause. »Wie’s den Bach runterging.«
    »Ich beschäftige mich immer weniger mit der Vergangenheit. Ich denke nicht darüber nach, was ich versäumt habe, welche Gelegenheiten ich hätte ergreifen sollen. Darüber wunderst du dich wahrscheinlich.«
    »Liegt es in deiner Situation nicht nahe, Bilanz zu ziehen?«
    »Das habe ich schon getan. Und ich war schnell damit fertig – hey, ich arbeite in einer Bank! Eine Bilanz bezieht sich immer auf einen bestimmten Zeitpunkt. Es ist eine Berechnung des Eigenkapitals: dessen, was du jetzt hast.«
    »Keine Kosten-Nutzen-Rechnung? Wer hat mir etwas gebracht, und auf wen konnte ich verzichten?«
    Felix schüttelte den Kopf. »Du verbringst zu viel Zeit mit deinen Erinnerungen, Klemens. Sind die wirklich so wichtig?«
    Raupach verlor manchmal die Kontrolle über seine Erinnerungen. Sie überfielen ihn wie ein fernes Beben. Dann war es, als schwankte der Boden, auf dem er ging, mit dunklem

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