Das dunkle Erbe
mitmachte, wie sie es aus der Rückschau formulierte, ein Vorwurf klang immer noch durch. Eva riss ein paarmal aus, fuhr per Anhalter an die Nordsee und nach Garmisch an den Rand der Alpen, was zu jener Zeit als unerhört galt. Als Minderjährige kam sie allein nicht über die Grenze, sonst wäre sie noch weiter weggereist. Manchmal kehrte sie von selbst wieder zurück, manchmal brachte die Polizei sie heim, oder Gustav musste sie abholen. Der Bruch schien unausweichlich.
1963 starb Heinrich Brehm bei einem Autounfall. Das brachte die Dinge vollends durcheinander, aber nur kurz.
Viktoria machte eine Pause und befeuchtete ihre Lippen. Die waren ganz trocken, aufgesprungen vom Schweigen Tag und Nacht, von der Stille, die sich ohne Eva noch länger dehnen würde. Nur das Lodern der Flammen und der Luftzug des Kamins waren zu vernehmen. Und ein Wummern, wahrscheinlich vom Stadtbus.
»Der Tod ist ein Lehrmeister«, fügte sie hinzu. »Man sieht danach vieles mit anderen Augen.«
Raupach und Photini sagten nichts.
Tiefes Atemholen. So musste es oft gewesen sein, wenn die Frau dem Unglück, das sie zur Waise gemacht hatte, Sinn einzugeben versuchte. Es kostete jedes Mal Energie, zehrte am Lebensnerv. Raupach fragte sich, ob Viktoria Brehm wirklich glaubte, was sie da über den Tod sagte, worin seine Lehre bestand, oder ob sie nur eine liebgewonnene Floskel benutzte.
Dann ging es weiter.
Eva fand wieder Interesse an der Schule. Sie machte doch noch ihr Abitur, sehr zur Freude ihres Vaters, und fing an zu studieren, ausgerechnet Medizin. Gustav war überglücklich und stolz, wer konnte es ihm verdenken? Es kam ihm so vor, als seien die früheren Auseinandersetzungen beigelegt, ein Schlenker in der Entwicklung einer selbstbewussten jungen Frau. Inzwischen arbeitete er am neugebauten Heilig-Geist-Krankenhaus, in gehobener Position, er ließ seine Tochter an der langen Leine, um keine weiteren Widerstände zu erzeugen.
Doch Eva fügte sich nur, um ihren Vater milde zu stimmen. In Wirklichkeit verfolgte sie ein anderes Ziel. Sie wollte weg aus Deutschland, war aber noch nicht volljährig. Einundzwanzig musste man damals dafür sein. Das wurde sie 1966. Als sie ihrem Vater mit der Idee eines Auslandsstudiums kam, weigerte er sich, seine Zustimmung zu geben.
Es gab einen fürchterlichen Streit, was gar nicht so sehr an Evas USA-Plänen lag. Die hätte Gustav prinzipiell befürwortet im Sinne der Weiterbildung. Er fand, Eva sei noch zu jung für so einen Schritt. Sie hatte damals Affären, wie man so sagte, nichts Festes, sondern immer nur kurze, dafür reichlich heftige Bekanntschaften. Das war anrüchig. Gustav wusste, wie schwer sie zu bändigen war. In Amerika hätte er sie gar nicht mehr im Auge behalten können.
Trotzdem setzte sich Eva am Ende durch. Über ihre Zeit in den USA redete sie später kaum, zumindest nicht so, wie man sich unter Freundinnen austauscht. Als Eva nach Köln zurückkehrte, überschlugen sich in ihrem Kopf die politischen Vorstellungen, allerlei wirres Zeug über das System und die Revolution, was damals eben so in Mode war.
»Damit hat sie mich angesteckt«, sagte Viktoria Brehm, »1968 sog ich alles in mich auf, was auf irgendeine Art exotisch klang. Vietnam zum Beispiel, Eva konnte sehr überzeugend sein. Freundschaft gründet ja darauf, dass man mit dem anderen bedingungslos übereinstimmt und sich dessen felsenfest sicher ist. Zu zweit fühlt man sich denselben Menschen verbunden und lehnt dieselben Menschen ab. Diese Gewissheit findet man nur sehr selten im Leben, nicht wahr?«
Sie nahm ihren Stock und betrachtete den gekrümmten Griff. Ihre Stimme war dünner geworden. Sie räusperte sich.
Von der Medizin wollte Eva vorerst nichts mehr wissen. Gustav stellte sie vor die Wahl: Entweder trat sie sein Erbe an. Oder sie schmiss die Brocken hin und musste sich woanders eine Bleibe und ein Auskommen suchen. Gustav hatte Eva immer den Unterhalt bezahlt und war dabei mehr als großzügig gewesen, aber diesmal beharrte er auf seinem Standpunkt. Allerdings setzte er Eva keine zeitliche Begrenzung, sie konnte sich also noch ausprobieren.
Das tat sie auch, schon aus Trotz, und Gustav litt darunter, dass er sich auf eine derart materielle Ebene herab begeben hatte. Sie lebten im selben Haus, hatten sich aber nicht mehr viel zu sagen. Vielleicht hätten nur ein paar Jahre ins Land gehen müssen, und sie wären sich wieder nähergekommen. Nach dem Tod seiner Frau hatte Gustav nicht mehr
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