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Das dunkle Erbe

Das dunkle Erbe

Titel: Das dunkle Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Kastura
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New York alles vor, David sollte nachkommen und möglichst viel von ihrem Vermögen in die USA transferieren. Doch das war gar nicht so einfach. Schon mal was von Reichsfluchtsteuer gehört? Oder von der Dego-Abgabe? Das war eine Zwangsabgabe an die Deutsche Golddiskontbank. Sie betrug rund achtzig Prozent des Gesamtvermögens.«
    »Das Wort Abgabe diente wohl nur der Verschleierung.«
    »Es war Raub. Die Nazis wollten die Juden als Bettler über die Grenze jagen.«
    »Damit kein Land Interesse daran hatte, sie aufzunehmen«, ergänzte Raupach.
    »Außerdem hing David an seiner Firma. Er hatte die Hoffnung, dass sich alles wieder beruhigen würde, dass der braune Spuk vorüberginge. Seine Geschäftsfreunde gaben Hitler noch ein oder zwei Jahre, vielleicht hofften sie auf eine Intervention des Auslands. Wir wissen, das Gegenteil war der Fall. Während David abwartete, wurde es schlimmer und schlimmer. Als er 1938 dann endlich rauskam, besaß er nur noch, was er am Leibe trug. Die Mitnahme von Gütern und Bargeld war streng reglementiert.«
    Sharon blickte nach vorn. »Hedwig konvertierte in den USA zum Judentum. Sie meinte, das sei sie ihrem Mann schuldig.«
    »Was geschah mit Hedwigs Kind?«
    »Meine Großmutter wuchs in Brooklyn auf, ganz bewusst ohne die deutsche Sprache.« Sharon wandte sich dem Kommissar zu. Er hatte einige Lücken, wusste aber vieles, was ihr verborgen geblieben war. Offenbar hatte er keine Probleme damit, dieses Wissen zu teilen. Sein Drang, den Dingen auf den Grund zu gehen, war so stark wie der ihre.
    »Was erwarten Sie jetzt von mir?«, fragte sie.
    »Sie nehmen ungern Hilfe an.«
    »Wie wär’s, wenn Sie einfach mal einen Blick auf meine persönliche Habe werfen?«
    »Was meinen Sie damit?«
    »Das Buch, das Sie mir abgenommen haben.«
    Raupach angelte die Plastiktüte vom Beifahrersitz.
    »Gehen Sie behutsam damit um«, sagte Sharon. »Dieses Siddur ist sehr alt.«
    Raupach schlüpfte in ein neues Paar Schutzhandschuhe. Dann holte er das Buch heraus und schlug es auf. »Was ist ein Siddur?«
    »Ein Gebetbuch für die Werktage.« Sharon wies auf das Titelblatt vorne im Buch. »Sehen Sie, es wurde 1758 gedruckt. Von der jüdischen Gemeinde in Worms.«
    Raupach hatte den Eindruck, als hielte er einen geheimen Codex in Händen. Er blätterte darin. Die hebräischen Buchstaben strahlten eine merkwürdige Vertrautheit aus. Auf den ersten Blick wirkten die Seiten wie eine mittelalterliche Handschrift, allerdings wie eine aus dem Orient.
    Als er ungefähr in der Mitte angekommen war, löste sich etwas aus dem Buch und fiel zu Boden. Ein zusammengefaltetes Blatt. Er hob es auf.
    Es war eine Farbkopie der Schatzkastenliste.
    »Eva hat mir diese Kopie geschickt«, sagte Sharon.
    »Wann?«
    »Vor ein paar Monaten, nach New York. Sie konnte nichts damit anfangen, wollte es auch nicht so recht. Das hing wohl mit dem Verhältnis zu ihrem Vater zusammen.« Sie beugte sich vor und strich über den Einband des schwarzen Buches. »Dieses Siddur gehörte meinem Urgroßvater. Es war das Einzige, was er von seinen Schätzen auf die Überfahrt nach Amerika mitnahm.«
    »Und es hat sich bis auf Sie vererbt?«, fragte Raupach.
    »Auf dieses Buch wäre jedes Museum stolz.« Sie lehnte sich zurück. »David starb auf der Schiffsreise, an einem Herzinfarkt. Er war den Nazis entronnen, hatte eine neue, bessere Welt vor sich, ausgeraubt bis aufs letzte Hemd, aber frei. Die jahrelang aufgestaute Anspannung ließ nach. Und plötzlich machte die Pumpe nicht mehr mit.«
    »Das tut mir aufrichtig leid.« Mehr wusste Raupach nicht zu sagen.
    »Er besaß eine ganze Sammlung wertvoller Judaika. Kiddusch-Becher, vollständige Hawdala-Kompendien, Thoraschilde und Thorazeiger, dazu silberne Aufsätze, verschiedene rituelle Teller und Decken. Vieles davon war uralt, es ging bis in die Gründungszeit jüdischer Ghettos zurück.«
    »Wann war das?«
    »Vor ungefähr fünfhundert Jahren.« Sharon hielt inne. »Sie machen sich keine Vorstellung von der Schönheit dieser Dinge, ihrem Zauber. Man spürt es noch, dieses dunkle, auf immer versunkene Erbe. Das waren kleine Welten, schwer vorstellbar für Menschen des 21. Jahrhunderts. In der christlichen Welt gibt es das doch auch, alte Monstranzen, Rosenkränze. Bei den Juden sind es Menora-Leuchter in verschiedenen Ausführungen oder Besamimbüchsen in Form kleiner Türme, aus Gold und Silber, verziert mit winzigen Fähnchen und Glöckchen. Man bewahrte Kräuter darin auf, ihr Duft

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